Gesellschaftsvertrag

Das Konzept des ,Gesellschaftsvertrags‘

Das Konzept des ‚Gesellschaftsvertrags‘ wird in wissenschaftlichen und journalistischen Texten – und auch von internationalen Organisationen (siehe weiter unten) – immer häufiger verwendet, wenn es um die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft geht. Es hilft u.a. zu analysieren,

  • warum einige Gesellschaftsgruppen sozial, politisch oder wirtschaftlich besser gestellt sind als andere,
  • warum es Revolten und Forderungen nach neuen Gesellschaftsverträgen gibt,
  • warum manche Länder in Gewaltkonflikte abgleiten,
  • wie externe Akteure – zum Beispiel externe Geber – die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in einem Land beeinflussen können, indem sie die Regierung oder bestimmte Gesellschaftsgruppen stärken.


Allerdings ist der Begriff ‚Gesellschaftsvertrag‘ bislang nur unzureichend konzeptualisiert, und sein Potenzial für den Vergleich und die Analyse der Staat-Gesellschafts-Beziehungen in verschiedenen Ländern wurde noch nicht ausreichend genutzt.

Ein Forschungs- und Beratungsprojekt des IDOS arbeitet daher daran, das Konzept weiterzuentwickeln und für Forschung und Politik besser nutzbar zu machen. Es definiert den Gesellschaftsvertrag als die „Gesamtheit expliziter oder impliziter Vereinbarungen zwischen allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen und dem Souverän (d.h. der Regierung oder einem anderen Machthaber) über wechselseitige Rechte und Pflichten“ (Loewe, Zintl und Houdret 2020). Die Hauptmerkmale von Gesellschaftsverträgen sind (i) ihr Geltungsbereich, (ii) ihr Inhalt (wechselseitige Versprechen der Regierungen und gesellschaftlichen Gruppen) sowie (iii) ihre zeitliche Dimension.

Ein Schwerpunkt des BMZ-finanzierten Projekts liegt dabei auf den Ländern der sog. MENA-Region (Middle East and North Africa), wo nach Erreichen der Unabhängigkeit sehr spezifische Gesellschaftsverträge entstanden, die auf der Umverteilung externer staatlicher Renteneinnahmen (aus natürlichen Ressourcen und anderen Quellen) basierten. So versorgten die Regierungen die Bürger*innen mit Lebensmittel- und Energiesubventionen kostenloser Bildung sowie Jobs im öffentlichen Dienst im Gegenzug dafür, dass diese die Legitimität der Regierungen anerkannten, obwohl es fast keine politische Partizipation gab. Aufgrund von wachsender Bevölkerung und sinkenden Staatseinnahmen konnten die Regierungen ihre Aufgaben aber immer weniger erfüllen, was letztlich die Aufstände in den arabischen Ländern 2011 mit verursacht hat.

Veröffentlichungen zum Konzept des Gesellschaftsvertrags

Eine Kurzfassung des IDOS-Konzepts wurde 2019 in der Reihe „Analysen und Stellungnahmen“ in deutscher, englischer, französischer und arabischer Version veröffentlicht:

 

In derselben Reihe erschienen weitere policy papers mit Schlussfolgerungen, die sich aus dem Konzept des Gesellschaftsvertrags für die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) ziehen lassen:
 

 

Eine ausführliche Version des Konzepts erschien als einleitender Aufsatz zu einem Sonderheft von World Development:

 

In demselben Sonderheft erschienen auch folgende Aufsätze:

 

Zwei Aufsätze beschäftigen sich mit der Frage, welche Erwartungen die Bürger in der arabischen Welt an die Gesellschaftsverträge in ihren Ländern haben:

 

Mehrere Meinungspapiere beschäftigen sich mit der Frage, welche Folgen sich für internationale Kooperation daraus ergeben, dass diese aus der Perspektive des Gesellschaftsvertrags analysiert wird:

Empirische Veröffentlichungen

Mehrere Aufsätze (zwei von ihnen im weiter oben bereits erwähnten Sonderheft von World Development) analysieren ausgewählte Politikbereiche mit hohem Reformpotenzial. Sie gehen der Frage nach, welche Maßnahmen im jeweiligen Politikbereich dazu beitragen könnten, die bestehenden Gesellschaftsverträge der MENA-Länder für größere Teile der Bevölkerung akzeptabel zu und damit insgesamt stabiler und nachhaltiger zu machen:

Rezeption des Konzepts in der Entwicklungspolitik

Auch Organisationen der internationalen Zusammenarbeit verwenden das Konzept zunehmend, um die Entwicklung in der MENA-Region konzeptionell besser zu greifen und ihre eigene Arbeit neu zu gestalten. Daher wurde das MENA-Team des DIE auch gebeten, die Weltbank und die OECD zu unterstützen. Beispielsweise wurde der folgende Bericht mit Unterstützung von IDOS erstellt:

 

Die OECD hat zwei Jahrestreffen der MENA-OECD Economic Resilience Task Force mit Unterstützung des IDOS abgehalten: eines 2018 in Jiddah (Saudi-Arabien) und das andere 2019 in Berlin (Deutschland).

Und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) erstellt derzeit im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) eine Portfolio-Analyse der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Nahen Ostens unter Verwendung des vom DIE erarbeiteten Konzept vom Gesellschaftsvertrags.

Aber auch in den MENA-Ländern wurde das IDOS-Konzept des Gesellschaftsvertrags mit Interesse aufgenommen. Die Filiale von Price Waterhouse Coopers (PWC) für die Golfregion benutzt das IDOS-Konzept in der Beratung seit 2020. Die Regierungen von Jordanien und Marokko zeigten sich ebenfalls interessiert. Zudem wurde das Konzept von der Stabilization Support Unit (SSU), die sich mit der zukünftigen Entwicklung in Syrien auseinandersetzt, entschieden angenommen auf ihrer vierten politischen Konferenz in Gaziantep (Türkei), die im Rahmen der Phase "Gesellschaftsvertrag für das zukünftige Syrien" stattfand und sich v.a. mit der Beteiligung der lokalen syrischen Gemeinschaften an den politischen Prozessen in Syrien auseinandergesetzt hat:

Aspirations of the syrian local communities for a NEW Syrian Social Contract
Konferenz, organisiert von der the Stabilization Support Unit (SSU),
Gaziantep, Türkei, 27. Oktober 2022

Veranstaltungen

IDOS brachte die Thematik auch durch organisierte Panels auf mehreren internationalen Konferenzen ein – wie zum Beispiel:

 

Eine wissenschaftliche Konferenz zur Zukunft der Gesellschaftsverträge in den MENA-Staaten organisierte das IDOS selbst in Zusammenarbeit mit dem Institute for Policy Research (IPR) der Universität Bath in Bonn:

Und sechs Jahre später folgte ein wissenschaftlicher Workshop, auf dem über die Faktoren diskutiert wurde, die zu Veränderungen im Positiven und Negativen in Gesellschaftsverträgen führen können:

Veröffentlichungen anderer Autor*innen

Relevant sind weiterhin auch folgende Veröffentlichungen:

Kontakt

Markus Loewe

E-mail  Markus.Loewe@idos-research.de
Phone +49 (0)228 94927-154
Fax +49 (0)228 94927-130