The Current Column
Lampedusa: Was beim Thema Migration nicht vergessen werden sollte…
Schraven, BenjaminThe Current Column (2013)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 16.10.2013)
Bonn, 16.10.2013. Vor der kleinen italienischen Insel Lampedusa ereigneten sich in den vergangenen Tagen zwei entsetzliche Bootsunglücke, bei denen über 300 Flüchtlinge ums Leben kamen, die auf dem Weg in den europäischen Arbeitsmarkt waren. Gleichzeitig warnt Bundesinnenminister Friedrich die deutsche Öffentlichkeit vor einer massiven Zunahme von „Armutsmigranten“ aus Bulgarien und Rumänienin in Deutschland. Nicht zuletzt leben nach einem Bericht des EU-Parlaments schätzungsweise bereits 880.000 ‚Sklaven‘-Arbeiter in der EU.
Der übliche politische Reflex, vor allem auf die Bootsunglücke im Mittelmeer, ist der Ruf nach strikteren Grenzkontrollen, höheren Aufnahmequoten für Flüchtlinge und einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge zwischen den verschiedenen EU-Ländern. Es mehren sich aber auch jene Stimmen, die mehr Entwicklungszusammenarbeit mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge fordern, um die Armut zu reduzieren, damit die Menschen in ihren Heimatländern bleiben. Wenn der Markt für Schlepper ausgetrocknet wird, können solche Katastrophen verhindert werden, so hofft man. Diese Argumentation ist nicht neu, greift aber zu kurz. Denn gerade die Ärmsten der Armen haben oftmals gar nicht die Möglichkeiten und Ressourcen, um zu migrieren, geschweige denn in andere Länder. Es wandern auch sehr viele Menschen aus aufstiegsorientierten Mittelschichten und politisch Verfolgte aus, die keine Perspektive mehr für sich in ihren Heimatländern sehen und die deshalb die gefährliche Reise nach Europa wagen.
Noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse im Mittelmeer begann in New York im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen der zweite „High-Level Dialogue on International Migration and Development“. Dabei ging es um die Schaffung von mehr internationaler Kohärenz im Bereich Migration und Entwicklung sowie um die Rolle des Themas Migration in der Post-2015-Entwicklungsagenda. Diskutiert wurde z. B. wie Migration stärker in die Entwicklungspolitik eingebunden werden könnte, oder in welcher Art und Weise internationale Arbeitsmobilität im Rahmen von wirtschaftlichen Abkommen implementiert werden können. Viele Beiträge von Vertretern unterschiedlichster Länder wurden aber vor allem von einem „Mantra“ dominiert: der Bedeutung finanzieller Rücksendungen internationaler Migranten für ihre Herkunftsländer.
In der Tat sind die Geldüberweisungen von Migranten beeindruckend. Gemäß jüngsten Berechnungen der Weltbank wird die Gesamtsumme der finanziellen Rücksendungen internationaler Migranten in Entwicklungsländer bereits in den nächsten drei Jahren die Marke von 500 Milliarden-US-Dollar deutlich überschreiten. Schon Mitte der neunziger Jahre war dabei die Gesamtmenge der Überweisungen von Migranten in Entwicklungsländer höher als das Gesamtvolumen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Seitdem ist diese Differenz noch einmal stark gestiegen. In zahlreichen Ländern wie Tadschikistan, Liberia oder Nepal machen die Rücksendungen heute bis zu 50 % des Bruttoinlandproduktes aus. Dabei werden diese finanziellen Mittel von den Familien der Migranten in den Empfängerländern nicht einfach nur für Konsum bzw. die Befriedigung von Grundbedürfnissen benutzt. Vielmehr werden sie reinvestiert oder für Gesundheits- und Bildungszwecke ausgegeben. Es liegt auf der Hand, dass die Überweisungen so nicht nur den Familien der Migranten zugutekommen, sondern im Endeffekt ganze Länder und Volkswirtschaften davon profitieren können. Doch diese positiven Mechanismen gelten nicht nur für internationale Migration. Denn den weltweit etwa 232 Millionen internationalen Migranten steht ein um ein Vielfaches höheres Millionenheer an landesinternen Migranten gegenüber. Auch deren Familien sind auf die Überweisungen ihrer Verwandten angewiesen und auch sie leben und arbeiten oftmals unter sehr prekären Bedingungen.
Insofern ist die einstimmig von der UN-Generalversammlung verabschiedete Deklaration zum „High-Level-Dialogue“, welche unter anderem die Verbesserung der Menschenrechtssituation von Migranten fordert, ein positives Signal. Aber es bedarf weiterer Schritte der Staaten und der Staatengemeinschaft, Migration politisch so anzugehen, dass man einem umfassenden, nachhaltigen Entwicklungsbegriff gerecht wird. Statt nur auf die eindämmende Wirkung von Entwicklungszusammenarbeit zu setzen oder selektiv wenige Bereiche oder Aspekte aus dem Gesamtkomplex Migration (wie etwa finanzielle Rücksendungen) herauszugreifen, muss es nun endlich darum gehen, Migration auch in der Entwicklungspolitik als eine elementare Tatsache der globalisierten Welt im frühen 21. Jahrhundert anzuerkennen. Dazu gehören konkrete Anstrengungen zur rechtlichen und sozialen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsverhältnissen von Migranten. Auch große Zuwanderungsländer des globalen Nordens oder am Persischen Golf müssen endlich internationale Konventionen wie die zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen unterzeichnen. <link record:tx_ttnews:tt_news:158 internal-link>Migration ist zudem potentiell eine äußerst wichtige Anpassungsstrategie an den Klimawandel und andere Umweltbeeinträchtigungen. Das bedeutet, dass Migration auch in der Anpassungspolitik mitgedacht und in ihrer positiven Wirkung unterstützt werden muss. Dabei sollte insgesamt das Thema Migrationsmanagement, und insbesondere die Vermittlung von Arbeitskräften an potentielle Arbeitsgeber, eine elementare Rolle spielen, nicht zuletzt auch, um ausbeuterische Praktiken zu unterbinden. Dieses kommt nicht allein den Migranten und ihren Familien zugute. Nicht nur um solche Katastrophen wie die vor Lampedusa in Zukunft zu verhindern, muss Europa seine Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik auf den Prüfstand stellen. Denn der „alte Kontinent“ wird sich bald die Frage stellen müssen, inwieweit eine gut gemanagte Zuwanderung auch bei der Lösung der Probleme, die sich etwa durch den demographischen Wandel ergeben, eine Rolle spielen könnte.