Die aktuelle Kolumne

Wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Transformationsländern in der arabischen Welt vertiefen!

Wiemann, Jürgen
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 28.02.2011)

Bonn, 28.02.2011. Wir reiben uns die Augen: Noch vor ein paar Tagen haben wir die ersten Etappen der am Ende hoffentlich erfolgreichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten mit banger Sympathie verfolgt, da landen schon wieder tausende „Bootsflüchtlinge“ an den italienischen Gestaden. Warum bleiben die jungen Leute nicht gerade jetzt daheim, genießen ihre Freiheit und engagieren sich beim Wiederaufbau der tunesischen Wirtschaft?

Wie war das eigentlich 1989 nach dem Fall der Mauer? Nicht ohne Grund werden die politischen Umbrüche in der arabischen Welt mit dem damaligen Umbruch der scheinbar unerschütterlichen Ordnung des gesamten Ostblocks verglichen. Zur Erinnerung: Damals hatte Bundeskanzler Kohl das richtige Gespür dafür, dass die ostdeutschen Landsleute sich eben nicht einfach mit der selbst errungenen Freiheit zufrieden geben, sondern auch die wirtschaftlichen Chancen würden nutzen wollen, welche die freie Marktwirtschaft des Westens jedem Tüchtigen eröffnet. Also wurde ein gutes halbes Jahr nach dem Mauerfall und noch vor der deutschen Einheit die D-Mark in den neuen Bundesländern eingeführt und für 17 Millionen Ostdeutsche ein staatliches Förderprogramm aufgelegt – in ähnlicher Größenordnung wie die öffentlichen Leistungen der westlichen Industrieländer an die Entwicklungsländer zusammengenommen (ca. 100 Mrd. US $ jährlich).

Und heute fragen die europäischen Politiker als erstes, wie wir uns der Wirtschaftsflüchtlinge von der anderen Seite des Mittelmeeres erwehren können! Natürlich soll dort nicht der Euro eingeführt werden; wir haben schon genug Probleme an der Peripherie des Euro-Raums. Ähnlich hohe Finanztransfers in diese Länder wären weder vorstellbar noch sinnvoll, zumal erst die Voraussetzungen für eine sinnvolle Verwendung geschaffen werden müssten. Aber etwas mehr Kreativität bei der Förderung der wirtschaftlichen Erholung dieser Länder nach erfolgter Wende sollte Europa schon zeigen.

Dafür bieten sich drei Optionen an: (1.) Weitergehende Öffnung der europäischen Märkte für alle Produkte, also auch für Agrarprodukte, für die es immer noch Importbeschränkungen zum Schutz der (süd-)europäischen Agrarproduzenten gibt. (2.) Mit Direktinvestitionen europäischer Unternehmen sollten Arbeitsplätze zu den Menschen in den neuen Transformationsländern gebracht werden, damit nicht umgekehrt die Menschen nach Europa zu den Arbeitsplätzen wandern müssen. (3.) Dafür müssen sich allerdings die Rahmenbedingungen in diesen Ländern erheblich verbessern, angefangen von einer stabilen politischen Ordnung, über ein funktionierendes Rechtswesen bis hin zur Ausbildung von Arbeitskräften. Daran mitzuwirken ist genuine Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern.

Je länger es dauert, bis sich die Wirtschaft in den nordafrikanischen Ländern nach dem politischen Umbruch erholt, desto mehr Wirtschaftsflüchtlinge werden nach Europa drängen. In gewisser Weise sind die internationalen Faktorwanderungen von Kapital und Arbeit komplementär. Je mehr Arbeitsplätze durch Kapitalexport in Länder mit Arbeitskräfteüberschuss und niedrigen Löhnen ausgelagert werden, umso weniger Anlass haben die Menschen in diesen Ländern, ihren Arbeitsplatz in Europa zu suchen. Eine Veranschaulichung dafür bieten die unterschiedlichen Strategien Deutschlands und Japans in der Zeit der Wirtschaftswunder beider Länder.

Bekanntlich wurde Deutschlands Wirtschaftswunder angetrieben vom ständigen Zustrom qualifizierter und motivierter Arbeitskräfte aus dem Osten, und als dieser versiegte, wurden Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland und schließlich, wenige Monate nach dem Mauerbau 1961, sogar mit der Türkei geschlossen, trotz damals bereits geäußerter Bedenken wegen möglicher kultureller Unverträglichkeiten. Aber die Nachfrage und der Druck der Industrie waren einfach zu stark. Zur selben Zeit hat Japan eine elegantere Alternative vorgeführt. Auch im japanischen Wirtschaftswunder brauchte die Industrie viele zusätzliche Arbeitskräfte. Aber Japan wollte noch weniger Einwanderungsland werden als Deutschland. Daher musste die Industrie notgedrungen den umgekehrten Weg beschreiten und Fertigungsstätten in die umliegenden Entwicklungsländer auslagern. Das war für beide Seiten vorteilhaft: Japans Industrie konnte weiter wachsen und dank der noch niedrigeren Löhne in den Peripherieländern die Weltmärkte erobern, während gleichzeitig Taiwan, Südkorea, Malaysia, Singapur, Thailand und zuletzt auch noch Vietnam und China durch die Investitionen aus Japan und später aus den anderen OECD-Ländern selbst zu erfolgreichen Exportländern wurden.

Gegenüber der japanischen hatte die deutsche Industrie insofern einen Standortnachteil, als Osteuropa bis 1989 für ausländische Investitionen praktisch verschlossen war und die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den heutigen Aufbruchsländern des Nahen Ostens lange Zeit ebenfalls nicht sehr einladend waren. Inzwischen fließen deutsche Investitionen wieder nach Osteuropa, und auch der Nahe Osten könnte an Attraktivität gewinnen, wenn die politischen Transformationsprozesse zum Erfolg und zu langfristiger Stabilität führen. Bis dahin sollte mit einem von der EU koordinierten und gesteuerten Green-Card-Programm arbeitslosen jungen Nordafrikanern Gelegenheit gegeben werden, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in Europa zu erproben. Manche von ihnen werden möglicherweise eines Tages zu Botschaftern für deutsche Firmen bei der Suche nach Partnern und Investitionsgelegenheiten in ihren Heimatländern. Nicht zu vergessen: Ihre Rücküberweisungen trügen sofort zur wirtschaftlichen Gesundung ihrer Länder nach den Wirren der Wende bei.

Wir haben also die Wahl: Entweder räumen wir den Nachbarländern in Nordafrika mehr wirtschaftliche Chancen durch Handel und Investitionen ein, oder wir werden einen größeren Zustrom von Menschen aus diesen Ländern erleben. Völlige Abschottung ist weder sinnvoll noch praktikabel – man kann ja im Mittelmeer keine Mauer errichten und nicht alle Bootsflüchtlinge aufs Meer zurückschicken. Nur wenn wir den jungen Gesellschaften die Hand zur Zusammenarbeit reichen, werden sich kulturelle Zusammenstöße und Schlimmeres vermeiden lassen. Dann wird sich vielleicht sogar eine europäische Vision realisieren lassen: Eines Tages könnte in der Sahara Sonnen- und Windenergie „geerntet“ und nach Europa transportiert werden. Daran sind deutsche Firmen beteiligt, und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird eine wichtige Rolle dabei spielen. Die Gunst der Stunde sollte genutzt werden, um die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in diesen Ländern dafür zu verbessern, dass die heute noch utopisch anmutenden Projekte eines Tages zum Nutzen beider Seiten verwirklicht werden können.

Der Beitrag stellt die persönliche Meinung des Autors dar und muss sich daher nicht mit den Ansichten der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) decken.

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