Die aktuelle Kolumne

Werte und Recht: in der Debatte um Grundrechte, Integration und Religion muss die Entwicklungs-politik Position beziehen

von Haldenwang, Christian
Die aktuelle Kolumne (2010)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 18.01.2010)

Bonn, 18.01.2010. Ende November 2009 wird in der Schweiz per Volksentscheid der Bau von Minaretten verboten. An Weihnachten entkommen die Passagiere eines Flugzeuges über Detroit nur mit großem Glück einem Bombenanschlag. Und am Neujahrstag dringt in Dänemark ein Mann in das Haus des Zeichners der Mohammed-Karikaturen, Kurt Westergaard, ein und versucht, ihn mit einer Axt anzugreifen. Besonders an diesem letzten Fall hat sich in Deutschland (erneut) eine Diskussion entzündet, die alle Höhen und Tiefen der hiesigen Wertedebatte aufdeckt. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit dem Islam, aber das ist in den meisten Beiträgen eigentlich nur eine Chiffre. Im Kern geht es darum, wie wir innenpolitisch, aber auch in unseren Beziehungen zu anderen Ländern, mit unterschiedlichen Werten, Kulturen und Rechtsbegriffen umgehen, und welche Wege uns langfristig offenstehen, um jenen Werten Geltung zu verschaffen, die wir als grundlegend für eine offene und gerechte Gesellschaft ansehen.

Für die Entwicklungspolitik ist diese Debatte von höchster Relevanz, denn sie berührt zentrale Aspekte des Politikfelds. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Andrian Kreye am 3. Januar 2010 in der Süddeutschen Zeitung schreibt: „Im Westen geht die Wertedebatte prinzipiell davon aus, dass der Wertekanon von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechten etwas ist, das der gesamte Rest der Menschheit herbeisehnt. (…) Ein Moslem ist jedoch kein Unterdrückter, der unter einer Diktatur leidet, bis ihn endlich die Flucht oder ein Befreier von seinem Schicksal erlöst.“ Peter von Becker bemerkt im Berliner Tagesspiegel am 5. Januar 2010: „Und naiv wirkt eine deutsche Bischöfin, die vielleicht glaubt, mit einer Männergesellschaft, die ihren Frauen weniger Rechte gewährt als einer Hausziege, friedlich und brunnenbohrend über eine menschenwürdige Zukunft verhandeln zu können.“

Welche Lehren sollen wir ziehen, welchen Weg einschlagen? Müssten wir, wie einige meinen, endlich damit aufhören, vor den Drohungen gewalttätiger Islamisten einzuknicken und unsere Grundwerte in vorauseilender Selbstzensur feige aufzugeben? Oder besteht unser zentraler Fehler darin, unsere „westlichen“ („christlichen“) Werte als alleinigen Maßstab für eine gute Gesellschaft in alle Welt zu exportieren, ohne auf andere Kulturen und Werteordnungen Rücksicht zu nehmen? Auf diesem Niveau bewegt sich die Diskussion über weite Strecken, und sie ist zuweilen von erschreckender Selbstgerechtigkeit und Ahnungslosigkeit.

Die aktuelle Diskussion zielt am Kern des Problems vorbei, weil sie auf einer falschen Gegenüberstellung beruht. Man muss kein Islamistenfreund sein, um den Abdruck der Mohammed-Karikaturen als unsensiblen oder sogar provozierenden Akt zu empfinden. Man muss aber auch kein westlicher Zivilisationskrieger sein, um zu erkennen, wie wichtig Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit für unsere Gesellschaft sind. Diese beiden Haltungen widersprechen sich nicht. Der zentrale Streitpunkt besteht nicht in der Frage, ob wir Meinungsfreiheit für wichtiger halten als Respekt vor den religiösen Ansichten anderer, sondern in der Frage, ob wir die Auseinandersetzung über Wertepräferenzen und Gesellschaftskonzepte monologisch oder dialogisch führen wollen.

Derzeit scheint das Monologische Überhand zu gewinnen. Aber welche Haltung ist eigentlich naiver – jene, die darauf setzt, reformwillige Kräfte in den Entwicklungsländern zu stärken und im Dialog gesellschaftliche Modernisierungsprozesse zu befördern, oder jene, die meint, der Rest der Weltbevölkerung wird schon irgendwann auf unsere Linie einschwenken, wenn wir nur möglichst konsequent „unsere Werte“ verteidigen?

Entwicklungspolitik muss dazu beitragen, die hiesige Debatte aus solchen argumentativen Sackgassen herauszuführen. Sie weiß schon seit langem, dass die universell gültigen Grundrechte und die Wertemaßstäbe einer urban-säkularen Gesellschaftsordnung sich nicht automatisch durchsetzen, sondern stattdessen in konfliktiven, langwierigen Prozessen schrittweise zur Geltung gebracht werden müssen – übrigens auch in unserer eigenen Gesellschaft, in der vieles, was wir heute als selbstverständlichen Teil unserer Kultur ansehen, erst gegen starke konservative Kräfte (darunter oft auch die Kirchen) durchgesetzt werden musste.

Die Entwicklungspolitik hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Fehler gemacht, aber sie hat auch viel gelernt. Sie weiß, dass friedlicher gesellschaftlicher Wandel sich nur im Dialog der Werte und Interessen vollzieht, nicht im einseitigen Oktroy der Rechthaber. Sie weiß, was es bedeutet, Modernisierung in einem Umfeld zu fördern, das durch schwache staatliche Strukturen, festgefügte Rollenbilder und gewaltsame Konflikte gekennzeichnet ist. Sie hat ihre Naivität im Hinblick auf die Steuerbarkeit komplexer Abläufe schon seit langem verloren und sie verfügt über Kenntnisse, die der innenpolitischen Debatte um Integration und Wertewandel weiterhelfen können.

Vor allem liefert die Entwicklungspolitik eine wichtige Erkenntnis: Diese Debatte darf nicht von den Rändern her geführt werden. Wenn wir nur die im Blick haben, die uns terrorisieren wollen, droht uns der Weg in den Abgrund der Polarisierung und Ausgrenzung. Es ist wahr: wir müssen uns gegen gewaltsame Angriffe zur Wehr setzen. Das ist aber womöglich die leichtere Aufgabe, verglichen mit der Herausforderung, Millionen von Menschen den Weg in eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu ebnen, auf die sie einen Anspruch haben. Dafür brauchen wir eine Politik, die sich ihrer Wertebasis bewusst und zum Dialog fähig ist.

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