Die aktuelle Kolumne
Stunde Null in Damaskus
Welche Rolle kann die internationale Gemeinschaft beim Neuanfang in Syrien spielen?
Zintl, Tina / Markus LoeweDie aktuelle Kolumne (2024)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 13.12.2024
Der unerwartet schnelle Vormarsch der Rebellengruppen und der Sturz des Machthabers Bashar al-Assad markieren einen historischen Wendepunkt für das von fast 14 Jahren Krieg zermürbte Syrien. Hieraus ergeben sich massive Folgen sowohl für die regionale als auch internationale Ordnung. Die internationale Gemeinschaft sollte nun großzügige Wiederaufbauhilfen anbieten, die die syrischen Akteur*innen selbst über ihre Zukunft entscheiden lassen.
In den vergangenen anderthalb Wochen gelang Hayat Tahrir al-Sham (HTS) unter Führung von Abu Mohammed Al-Jolani sowie einer Reihe verbündeter Rebellengruppen ein rasanter Vorstoß. In schneller Abfolge nahmen sie die Wirtschaftsmetropole Aleppo, Hama und schließlich Homs und die Hauptstadt Damaskus ein. Dies gelang auch deshalb, weil verbündete Rebellengruppen von Südsyrien aus nach Damaskus marschierten. Viele Kämpfer der HTS stammen selbst aus dem Süden und wurden überwiegend 2016 im Rahmen von sogenannten Versöhnungsabkommen nach Idlib umgesiedelt.
Die bisherigen Unterstützer al-Assads, Russland, Iran und die libanesische Hisbollah, sind geschwächt bzw. durch andere Konflikte gebunden und ließen ihn im Stich. Seine demoralisierte Armee zog sich teils kampflos zurück. Am Morgen des 8. Dezember 2024 floh der Präsident ins russische Exil; der Ministerpräsident kündigte seine Unterstützung für einen geordneten Machtwechsel an.
Die siegreichen Rebellen sind wegen ihrer islamistischen Vergangenheit umstritten. Die HTS beherrscht seit 2017 das Rebellengebiet Idlib im Nordwesten Syriens und baute dort funktionsfähige staatliche Strukturen und Dienstleistungen auf. Allerdings wurden ihr immer wieder Menschenrechtsverletzungen und Korruption vorgeworfen. HTS-Führer Al-Jolani kämpfte für al-Qaida im Irak und wurde als Anführer der mit al-Qaida affiliierten syrischen al-Nusra Front bekannt. Nun tritt er vermehrt unter seinem bürgerlichen Namen Ahmad al-Sharaa auf und distanziert sich von seiner dschihadistischen Vergangenheit. Eine Marionette des Westens ist er dennoch nicht. Mit ihm gibt es erstmals im syrischen Konflikt eine Führungsfigur, die sowohl von bewaffneten Milizengruppen als auch von vielen friedlich Demonstrierenden akzeptiert zu werden scheint. Dies könnte einen geordneten Übergang ermöglichen. Die siegreichen Rebellen versprachen religiösen Minderheiten Schutz und ordneten an, die bisherigen Verwaltungsstrukturen zunächst beizubehalten. Insbesondere Angehörige der alawitischen, christlichen und kurdischen Gruppen fürchten trotzdem um ihre Rechte und stehen dem Machtwechsel mit gemischten Gefühlen gegenüber.
Grund zur Sorge besteht tatsächlich vor allem für Kurd*innen: Im Schatten des Siegeszuges der HTS Richtung Süden setzt die mit ihr affiliierte, jedoch der Türkei hörige Syrische Nationalarmee (SNA) die Kurd*innen im Norden Syriens unter Druck. Dort kommt es zu massiven Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen, Kampfhandlungen dauern noch an. Internationale Akteur*innen sollten daher auf die Nachbarstaaten wie die Türkei, aber auch Israel, einwirken, die Souveränität Syriens zu respektieren.
Insbesondere aber sollten internationale Akteur*innen schnellstmöglich humanitäre Hilfe für die notleidende Bevölkerung leisten und der sich herausbildenden Übergangsregierung Unterstützung beim Wiederaufbau des durch Kriegswirtschaft gebeutelten Landes anbieten. Wichtig ist hierbei, dass alle syrischen Provinzen und Syrer*innen jedweder Konfession oder Ethnie profitieren. Wichtig ist aber auch, dass kein Machtvakuum entsteht, das der Islamische Staat oder andere Akteur*innen ausnutzen könnten. Nicht nur der Bürgerkrieg, auch der Stellvertreterkrieg in Syrien muss enden.
Deutschland, das in Syrien noch einen relativ guten Ruf genießt, könnte sich als Vermittler zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und einstigen Kriegsparteien anbieten, damit diese in einem kooperativen und transparenten Prozess Vertrauen aufbauen und einen neuen syrischen Gesellschaftsvertrag aushandeln können. Aufbauend auf Initiativen, wie dem Rat der syrischen Charta, der sich seit 2017 regelmäßig in Deutschland trifft, könnte eine inklusivere Ordnung im Interesse aller Syrer*innen entstehen. Dies kann gelingen, wenn die Geberorganisationen den Wiederaufbau von Infrastruktur und Gesundheits- und Bildungswesen unterstützen und eine Wiedereingliederung des Landes in die internationale Staatengemeinschaft – inklusive Aufhebung der Sanktionen – in Aussicht stellen. Deutschland kann auch bei der Gründung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission zur Aufarbeitung von (Kriegs-)Verbrechen des Assad-Regimes und dem Aufbau einer unabhängigen Justiz einen wertvollen Beitrag leisten: etwa durch seine Erfahrung mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit oder seiner Vorreiterrolle bei Gerichtsverfahren gegen syrische Kriegsverbrecher*innen im Ausland.
Angesichts drohender Kürzungen des Entwicklungsetats unter dem designierten US-Präsidenten Trump, fällt Deutschland und Europa eine wichtige Rolle zu. Die Aufbruchsstimmung und Euphorie der Syrer*innen im In- und Ausland birgt eine große Chance für einen Neuanfang in Syrien. Sie sollte nicht vertan werden und der Westen sollte Syrien nicht ein weiteres Mal im Stich lassen.