Die aktuelle Kolumne
Urlaubszeit ist Bücherzeit – Die aktuelle Kolumne fragt: „Was liest der EU-Kommissionspräsident in den Ferien?“
Grimm, SvenDie aktuelle Kolumne (2009)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 27.07.2009)
Bonn, 27.07.2009. Der August naht und mit dem Hochsommer verlangsamt sich auch allmählich der gewohnt hektische Gang des politischen Alltagsgeschäfts in Brüssel und den anderen Hauptstädten. Das zweite Halbjahr hat begonnen, die tschechische EU-Ratspräsidentschaft ging ohne großen Knall zu Ende und die Schweden sind seit Juli auf der Kommandobrücke des EU-Tankers. Nun aber – wie jedes Jahr im August – packt auch Brüssel die Koffer und ist auf dem Weg in die Sommerfrische. St. Tropez, Scheveningen, Samos oder Schärenküste: Europa reist an die Küsten oder in die Berge und nutzt – oft zu selbstverständlich – die durch die EU verbesserte Lebensqualität wie z. B. das Reisen ohne Visa, den Urlaub ohne Umrechnungstabellen dank Euro, die günstigeren Roaming-Tarife für das Handy (um die Lieben daheim anzurufen) oder die Badewasserqualität am Mittelmeer, der Ostsee oder auch am heimischen Baggersee. Im Brüsseler Europaviertel links und rechts der Rue de la Loi werden die Anzug- und Kostüm-bekleideten Personen weniger. Für den August gehört die belgische Region einmal wieder den Bruxellois und den Touristen. Was liest da eigentlich ein Kommissionspräsident im Urlaub?
José Manuel Barroso sitzt wohl kaum am Meer, lässt die Seele baumeln und liest eine leichte Sommerlektüre. Gar so entspannt dürfte der EU-Kommissionspräsident nicht sein. Zwar wurde er von den EU-Staats- und Regierungschefs einstimmig als sein eigener Nachfolger vorgeschlagen. Das ist bei 27 Entscheidungsträgern keine kleine Leistung. Ein allzu großes Tagträumen am portugiesischen Strand ist dabei aber trotzdem nicht drin: noch ist José Barroso nicht vom Europäischen Parlament bestätigt. Das neue, jugendlich ungestüme Parlament in Straßburg – nicht zuletzt die erstarkten Grünen und die geschwächten Sozialdemokraten – denkt nicht daran, dem Kommissionspräsidenten das Leben leichter zu machen.
Die Parlamentarier werden vielmehr die Anhörung im Herbst zu nutzen wissen, um eine Liste von Versprechungen zu erhalten, an denen man spätestens am Ende der Legislatur den José Manuel am Barroso messen kann. Verweigert das Parlament seine Zustimmung oder besinnen sich die Staats- und Regierungschefs noch eines anderen, wird Herr Barroso ab Herbst viel Freizeit als politischer Frührentner haben. Auf dem Arbeitsplan im Urlaub steht für den designierten Kommissionspräsidenten auch das Personaltableau der neuen EU-Kommission. Javier Solana geht in den Ruhestand, aber wer soll ihm nachfolgen? Und in welchem Amt eigentlich – angesichts der Lissabonner Vertrags-Hängepartie seit gut einem Jahr? Es bleiben insgesamt 27 Personen um den Kommissionstisch in Brüssel; jeder Staat behält seinen Stuhl. Soviel ist sicher. Aber wie sollen die Arbeitsbereiche für die einzelnen Posten zugeschnitten werden? Und was bedeutet dies jeweils für Europas Partner in der Welt?
Was also liest der Kommissionspräsident in seinen Ferien? Schwere, solide Kost? Vielleicht einen Klassiker wie John Maynard Keynes The General Theory of Employment, Interest and Money? Das wäre empfehlenswert, um sich mit den Kollegen Gordon Brown und Nicolas Sarkozy oder auch Frau Merkel nach den Ferien über die Sommerlektüre austauschen zu können – sie dürften den einen oder anderen Blick in Keynes Buch werfen. Allerdings könnte das Gespräch mit den Kollegen schleppend verlaufen. Der gerade vorgeschlagene Barroso ist für Brown oder Sarkozy kaum ein Gesprächspartner in dieser Angelegenheit. Die EU-Kommission hat trotz – oder gerade wegen – der Dringlichkeit und öffentlichen Aufmerksamkeit für die Finanzkrise bisher eine eher untergeordnete Rolle gespielt und es werden vorzugsweise nationale Rezepte präsentiert. Also eher eine andere Lese-Unterhaltung.
Als Urlaubslektüre bietet sich eventuell auch ein weltpolitisches Thema an: Parag Khanna mag mit seinem Buch „Der Kampf um die Zweite Welt“ eher vereinfachen, aber seine These von den drei verbliebenen Weltmächten (USA, China und Europa) klingt zunächst einmal plausibel. Tröstlich vielleicht, dass Europa (noch) zum Kreis der Großen in der Welt gezählt wird. Khanna zumindest scheinen keine großen Zweifel zu plagen mit Blick auf die vermeintlichen politischen Niederungen wie Protokollerklärungen zum zweiten irischen Referendum über den Lisabonner Vertrag. Dem Kommissionspräsidenten bereitet die zweite Volksabstimmung auf der Insel am 2. Oktober schon eher Kopfschmerzen. Und angesichts globaler Herausforderungen will sich ohnehin kein Triumph darüber einstellen, dass einige Autoren Europa noch bzw. künftig im Kreis der Großen sehen.
Das Dossier zum Europäischen Außendienst (EAD) ist sicherlich keine leichte Urlaubslektüre. Und doch wird gerade sie bei Barroso auf dem Urlaubstisch liegen. Was genau soll der gemeinsame diplomatische Dienst bearbeiten? Wie diplomatisch soll er überhaupt werden? Die Entwicklungspolitiker stellen Fragen zu den Aufgaben des EAD, die sich messen lassen müssen an dem, was Europa seinen Partnern bisher versprochen hat. Sind sie beteiligt? Wird Entwicklungspolitik neben dem EAD gestärkt werden, wo doch die globalen Krisen kollektive Antworten erfordern, wie alle europäischen Politiker immer wieder betonen? Aber wie genau soll das gehen? Welche Verwaltungseinheit, welcher Geldtopf geht in die Zuständigkeit des EAD? Und wie bekommt man dann die 27 Aufsichtsrats-, pardon: Mitglieder des Europäischen Rates, unter einen Hut? Der Kommissionspräsident ist nicht zu beneiden.
Lieber José Manuel Barroso, vielleicht ist es – zumindest nach dem Aktenlesen – doch ratsamer, wenn Sie zwischendurch dem Eskapismus frönen und sich über Goscinnys Abenteuer des „Petit Nicolas“ amüsieren. Oder greifen Sie zu „Flash Gordon“ in ihrer Aktentasche, um davon zu träumen, dass der allein die Welt oder doch zumindest eine schöne Protagonistin, sozusagen die moderne Europa, retten wird. So lassen sich nationale Illusionen aus Paris, London und anderen Hauptstädten zumindest im Urlaub schmunzelnd hinnehmen. Der politische Alltag kommt spätestens im September zurück. Wahlkampf in Deutschland ist für einen Kommissionspräsidenten vermutlich ebenfalls kein Vergnügen. Und globale Krisen lösen sich leider nicht von selbst über den Sommer, sondern brauchen lösungsorientierte Zusammenarbeit.