Die aktuelle Kolumne
Ungleichheit schadet den Einkommen der Armen
Van der Weide, Roy / Branko Milanovic / Mario NegreDie aktuelle Kolumne (2016)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 23.02.2016)
Bonn, Washington, 22.02.2016. Mit der Verabschiedung der Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals,SDGs) in diesem Jahr haben die Vereinten Nationen eine wichtige <link internal-link internen link im aktuellen>globale Agenda für den Zeitraum 2015 bis 2030 festgelegt. Ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang große Aufmerksamkeit erregt hat, ist das Problem der Einkommensungleichheit. Das Thema ist nicht neu auf der politischen Agenda. Dass es in Angriff genommen werden muss, ist mittlerweile Konsens.
Seit den 1950er Jahren haben viele ökonomische und politische Vordenker der Ungleichheit eine positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum zugeschrieben. Man ging davon aus, dass eine gewisse Wohlstandskonzentration zu mehr Ersparnissen führen würde, mit denen sich dann Investitionen in Wachstum finanzieren ließen. Ungleichere Gesellschaften böten dem Einzelnen einen stärkeren Anreiz, hart am Erfolg zu arbeiten. Aber wie so oft in der Ökonomie lässt sich das Argument auch ins Gegenteilige verkehren. Man könnte auch sagen: Der Schlüssel zur Wachstumsförderung in modernen Gesellschaften liegt weniger in materiellem Kapital. Wichtig ist stattdessen vor allem Humankapital in Form von Bildung. Fehlt einem größeren Bevölkerungsanteil der Zugang zu guter Bildung, kann das zukünftige Wirtschaftswachstum leiden. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der gute Schulen nicht allen offenstehen, sondern hohe Gebühren erheben oder sich auf bestimmte Stadtviertel beschränken – eine Gesellschaft, in der die zugänglichen öffentlichen Schulen zurückbleiben, weil die Reichen nicht in sie investieren wollen. Ähnlich verhält es sich mit dem Gesundheitswesen.
Seit einiger Zeit wird die Frage, ob sich Ungleichheit positiv auf Einkommenswachstum und Armutsbekämpfung auswirkt, angesichts des verlangsamten Wachstums in reichen Ländern bei gleichzeitig steigender Ungleichheit immer wichtiger. Die Beziehung zwischen Ungleichheit und zukünftigem Wachstum wurde umfassend erforscht, aber leider nie schlüssig geklärt. So werden wichtige Zusammenhänge übersehen, wenn das Wachstum der Durchschnittseinkommen (oder des Pro-Kopf-Bruttoinladsprodukts) in den Mittelpunkt gestellt wird. Aber wie ergeht es Menschen auf unterschiedlichen Stufen der sozioökonomischen Leiter in ungleichen Gesellschaften? Genau dies haben wir in einer <link https: ideas.repec.org p wbk wbrwps external-link-new-window externen link in neuem>aktuellen Studie untersucht.
Anhand von Daten aus den USA aus den Jahren 1960 bis 2010 – einer Zeit, in der sich die US-amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend gewandelt und sich das Wachstum zugunsten der oberen Schichten verschoben hat – haben wir einen wichtigen Grundsatz aufgestellt: Ein hoher Grad an Einkommensungleichheit korreliert später mit niedrigeren breitenwirksamen Wachstumsraten – außer für die oberen Schichten. Für sie gilt diese negative Korrelation nicht. Im Gegenteil: Eine höhere Ungleichheit verbessert ihre späteren Wachstumsaussichten. Anders gesagt: Sehr ungleich strukturierte Gesellschaften ermöglichen ein Wachstum, das die Ungleichheit weiter verstärkt. Dies gilt zumindest für die USA im untersuchten Zeitraum.
Warum ist es so schwierig, diesen Kreislauf zu durchbrechen und, wie im Fall der USA, das Land wieder in Bahnen zu lenken, in denen alle vom Wachstum profitieren? Unsere Hypothese: Bei starker Ungleichheit und Spitzeneinkommen, die weit über den Mittelklasseeinkommen liegen, ziehen sich die Reichen aus der öffentlichen Bildung, dem Gesundheitswesen und aus sonstigen Angeboten zurück, da sie sich verstärkt auf private Anbieter konzentrieren. Das lässt sich als „sozialer Separatismus“ bezeichnen. 58 % der Reichen in den USA waren bereit, öffentliche Ausgaben für Bildung und Gesundheit zum Zweck des Defizitabbaus zu kürzen, während es bei der restlichen Bevölkerung nur 21 % waren. Die öffentlichen Güter, in die die Reichen nicht zu investieren bereit sind, entscheiden jedoch über das breitenwirksame Wachstum der Realeinkommen. Leider haben sich die Wünsche der Reichen bei öffentlichen Entscheidungen als einflussreicher als die der unteren Schichten erwiesen. Bei diesem Gesellschaftsmodell führt starke Ungleichheit zusammen mit nur beschränkt verfügbaren Krediten und dem Einfluss der oberen Schichten auf den politischen Prozess zu einem Beharrungszustand. In diesem blockieren niedrige öffentliche Ausgaben den Einkommensanstieg für die unteren Schichten blockieren und führen die Ungleichheit fort.
Auch wenn diese Studie es nicht direkt beweist: Strategien wie die Eindämmung des Einflusses des Geldes auf die Politik, die Bekämpfung der sozioökonomischen Segregation und der Zugang zu guter Bildung für alle Kinder unabhängig vom sozioökonomischen Hintergrund verringern die Ungleichheit und verbessern die breitenwirksamen Wachstumsaussichten.
Roy Van der Weide arbeitet als Ökonom in der Abteilung Armut und Ungleichheit bei der Weltbank. Branko Milanovic is Gastwissenschaftler beim Graduate Center der City University of New York und Wissenschaftler am Luxembourg Income Study Center. Mario Negre ist Ökonom in der Abteilung Armut und Ungleichheit bei der Weltbank und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)