Die aktuelle Kolumne
Soziale Sicherung: Ein wirksamer Schutzschild gegen globale Krisen
Burchi, Francesco / Markus LoeweDie aktuelle Kolumne (2022)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), (Die aktuelle Kolumne vom 04.10.2022)
Die Welt befindet sich in einer Mehrfachkrise: Covid19, steigende Lebensmittel- und Energiepreise aufgrund des Krieges in der Ukraine. Die Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Durchschnittseinkommen leiden darunter besonders. Ihre Regierungen sollten die Höhe und Reichweite der Leistungen von Sozialprogrammen ausweiten, um extreme Armut zu bekämpfen, den Zugang zu Nahrungsmitteln und medizinischer Grundversorgung für alle Bürger sicherzustellen und einen Schutzschild gegen den nächsten externen Schock zu errichten.
In den letzten zwanzig Jahren wurde die Welt mit einer Reihe von Schocks konfrontiert, von denen alle Länder betroffen waren. Dazu gehören die Weltwirtschaftskrise 2008, die Covid19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine, aber auch der rasche Klimawandel begünstigte beispiellose Überschwemmungen, Dürren und Hitzewellen. Diese Schocks haben gemein, dass sie die Lebensgrundlagen armer und armutsgefährdeter Menschen bedrohen und bestehende Ungleichheiten hinsichtlich Einkommen, Ernährung, Gesundheit, Bildung und anderer Aspekte des Wohlbefindens verschärfen.
Vor allem die Regierungen von Ländern mit niedrigem und niedrigem mittleren Einkommen können für sich alleine wenig tun, um die Schocks als solche zu verhindern, aber sie können versuchen, deren Auswirkungen abzufedern, indem sie die Reichweite der vorhandenen Programme der sozialen Sicherung ausweiten, neue Programme aufbauen und die Leistungen insbesondere für Menschen mit niedrigem Einkommen erhöhen. Cash-for-work-Programme wie das Rural Employment Guarantee Scheme in Indien sind in dieser Hinsicht besonders wirksam; sie bieten Menschen ein Einkommen, die bereit sind, beim Aufbau von dringend benötigter Infrastruktur wie Straßen, Dämmen, Frischwasserleitungen und Kanalisation zu arbeiten. Die Programme schützen die Lebensgrundlagen von Menschen mit geringem Einkommen, stellen sicher, dass nur die wirklich Bedürftigen profitieren, und verhindern, dass weitere Menschen in Armut abrutschen. Auch universelle Kindergeld- und Sozialrentenprogramme können sehr hilfreich sein, wie das Beispiel von Lesotho zeigt. Viele Länder wie Brasilien, Nicaragua, Iran und Indonesien haben ebenfalls gute Erfahrungen mit Sozialhilfeprogrammen gemacht – ob deren Leistungen an Bedingungen geknüpft sind oder nicht.
Frauen sind seltener erwerbstätig als Männer und zudem häufiger im informellen Sektor beschäftigt, so dass sie vielfach nicht von Sozialversicherungen profitieren. Für sie können steuerfinanzierte Sozialhilfe- und cash-for-work-Programme daher besonders wichtig sein. Dennoch sollten bei der Ausgestaltung genderspezifische Bedarfe berücksichtigt werden, damit die Programme Frauen tatsächlich stärken, anstatt traditionelle Geschlechterrollen oder eine Doppelbelastung von Frauen durch zusätzliche Arbeit zu befördern.
Wenn diese Programme angemessen konzipiert sind, unterstützen sie nicht nur die unmittelbar Begünstigten, sondern verhindern auch, dass ein etwaiger Rückgang der Nachfrage im Ausland zu einem allgemeinen Konsumeinbruch führt. Wo es bereits Programme der sozialen Sicherung gibt, können die Regierungen deren Etats relativ schnell aufstocken, um Kompensation für Einkommenseinbrüche an anderer Stelle zu schaffen; die Kosten sind in der Regel nicht prohibitiv, insbesondere wenn die Regierungen schon im Voraus durch antizyklische Ausgabenpolitik vorgesorgt haben. Programme der sozialen Sicherung sind also nicht nur mikroökonomische, sondern auch makroökonomische Stabilisatoren, die den Zusammenbruch ganzer Volkswirtschaften verhindern. Darüber hinaus können sie auch die lokale Wirtschaft ankurbeln, wenn die unmittelbar Begünstigten lokal einkaufen und so auch die Einkommen ihrer Nachbarn steigen lassen. Die Weltbank schätzt diesen Effekt auf die lokale Ökonomie auf das bis zu Fünffache der eigentlichen Auszahlungen der Sozialprogramme.
Vor Covid19 gaben die Länder mit niedrigem und mittlerem Durchschnittseinkommen im Mittel nur 1,0 bzw. 2,5 % des BIP für soziale Sicherung (ohne Gesundheit) aus, während es bei den Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen 16 % waren. Einige Länder wie Lesotho, die Mongolei und Timor-Leste gaben jedoch schon vor Covid19 weit mehr als 5 % des BIP aus. Viele andere wie Äthiopien, Mosambik, Marokko und Pakistan haben ihre Ausgaben für soziale Sicherung als Reaktion auf die Krise deutlich erhöht, zum Teil mit Unterstützung von externen Gebern. Allerdings haben sie oft nur kurzfristige Maßnahmen mit begrenzten Leistungen umgesetzt, so dass die Empfänger vulnerabel für vielfältige Risiken blieben.
Es ist an der Zeit, dass die nationalen Regierungen solche Nothilfemaßnahmen in universellere, dauerhafte und rechtsbasierte Programme umwandeln, um möglichst allen Bürgern Schutz vor dem nächsten größeren Schock zu bieten. Länder mit niedrigem und mittlerem Durchschnittseinkommen sollten mit dem Aufbau einer sozialen Grundsicherung beginnen, die eine universelle und kostenlose Gesundheitsversorgung, universelle Grundrenten- und Kindergeldprogramme sowie cash-for-work-Angebote für vulnerable Menschen im arbeitsfähigen Alter umfasst. Externe Geber können die Partnerländer im Rahmen von technischer und finanzieller Zusammenarbeit beim Aufbau und der Reform von Programmen der sozialen Sicherung unterstützen. Zum Beispiel können sie helfen bei der Erstellung eines zentralen Registers der Empfänger von Sozialleistungen oder eines systemischen Politikansatzes, der die verschiedenen bestehenden Programme besser miteinander harmonisiert. In einigen Fällen sollten die Geber auch laufende Transfers finanzieren, z. B. in Ländern, in denen Krieg herrscht und es keine funktionsfähige Zentralregierung gibt. Und sie sollten einen globalen Schutzschild finanzieren, der Ländern mit niedrigem und mittlerem Durchschnittseinkommen beim Umgang mit Klimarisiken unterstützt.
Parallel müssen viele Länder aber auch verstärkt in die Gesundheits- und Beschäftigungspolitik investieren, insbesondere in die Ausstattung von Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung und in die Berufsbildung. Die jüngsten Krisen haben das Leben vieler Menschen nicht nur in finanzieller Hinsicht beeinträchtigt. Covid19 beispielsweise hat das Einkommen vieler Haushalte - vor allem in der informellen Wirtschaft - geschmälert, aber auch die Defizite der Gesundheitssysteme in vielen Ländern offenbart.