Die aktuelle Kolumne

Evidenzbasierte Politik in unsicheren Zeiten

Neue deutsche Arktisleitlinien: Wissensdiversifizierung für Klimapolitik

Gehrke, Charlotte / Dorothea Wehrmann
Die aktuelle Kolumne (2024)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 14.10.2024

Bonn, 14. Oktober 2024. Die Arktis befindet sich ökologisch und politisch an einem Scheideweg. Russlands Angriffskrieg in der Ukraine hat die Governance in der Arktis stark geschwächt. Staaten mit Interessen in den Arktisregionen richten ihre Arktis-Strategien neu aus – mit einem stärkeren Fokus auf Sicherheitsfragen. Deutschland wird seine neuen Leitlinien für die Arktispolitik bei der Arctic Circle Assembly vorstellen, die diesen Donnerstag beginnt.

Während der Fokus der Leitlinien deutscher Arktispolitik von 2019 auf der rasanten Erwärmung der Arktisregionen lag, beginnen die neuen Leitlinien mit der Zielsetzung, „Sicherheit und Stabilität“ sowie die Verteidigung „der regelbasierten internationalen Ordnung“ in der Arktis zu gewährleisten. Die Arktis erwärmt sich viermal schneller als der Rest der Welt und die Bundesregierung bekräftigt ihr Bekenntnis zu den Klimaabkommen, betont jedoch die deutlichen Veränderungen in der politischen Zusammenarbeit und Forschung seit Februar 2022.

Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine ist Russland im Arktischen Rat, dem zentralen regionalen Forum, isoliert. Da Russland der größte Mitgliedstaat des Rates ist und Entscheidungen nach dem Konsensprinzip getroffen werden, bleibt unklar, ob und wie der Rat in Zukunft politisch handlungsfähig sein wird. Deutschland ist als Nicht-Arktisstaat mit Beobachterstatus im Rat verpflichtet, die Arbeitsgruppen des Arktischen Rates durch Forschung und Expertise zu unterstützen.

Für Deutschland stellt sich nun die Gretchenfrage, wie es Forschungsprojekte gemeinsam mit anderen Nationen unter der Schirmherrschaft des Arktischen Rates durchführen kann, nachdem die Forschungszusammenarbeit mit russischen Institutionen eingefroren wurde. Auf der Suche nach Lösungen für die weitere Zusammenarbeit und einer Zukunft für den Arktischen Rat bringen viele Stimmen Präzedenzfälle der arktischen Wissenschaftsdiplomatie ins Gespräch. Seit 2022 hat sich das Konzept der „Wissenschaftsdiplomatie“ von einem vergleichsweise unbedeutenden, wenn auch schnell wachsenden Bereich der Forschung und politischen Praxis, zu einem Schlagwort entwickelt, das auf nahezu jedem Arktis-Konferenzprogramm zu finden ist.

Während sich einige Forscher*innen und politische Entscheidungsträger*innen mit Verweis auf die erfolgreiche Wissenschaftsdiplomatie in der Arktis zwischen der UdSSR und anderen Polarstaaten gegen Ende des Kalten Krieges für eine Track-II-Diplomatie mit Russland aussprechen, sind andere skeptisch. Auf der Suche nach zukünftigen Kooperationsmöglichkeiten mit nicht-russischen Partnern, drehen sich die Gespräche über die Wissenschaftsdiplomatie in der Arktis um Forschung als politisches Werkzeug.

Dies spiegelt sich auch in den neuen Leitlinien der deutschen Arktispolitik wider, in denen Deutschland „sich für den Erhalt und Ausbau einer freien und verantwortungsvollen Forschung in der Arktis als Grundlage für politisches Handeln“ einsetzen will. Wissenschaftliche Forschung wird als ein multifunktionales Werkzeug dargestellt, mit dem Staaten ihre Rolle in der Arktispolitik legitimieren und im Rahmen der Forschungszusammenarbeit wertvolle Informationen über Klimaveränderungen und deren Folgen für die Arktis liefern können.  

Doch selbst Arktisforscher*innen weisen darauf hin, dass die notwendigen Daten bereits vorliegen, um die Klimakrise angehen zu können. Stattdessen sollte die Wissenschaftsdiplomatie in der Arktis und darüber hinaus die politische Zusammenarbeit fördern, damit gemeinsam Lösungen entwickelt werden können. Um die Politik mithilfe effizienter politischer Strategien zur Eindämmung des Klimawandels zu unterstützen, ist eine stärkere Berücksichtigung von Forschungs- und Wissenssystemen außerhalb und zusätzlich zum MINT-Bereich und unter stärkerer Einbeziehung der Sozial- und Geisteswissenschaften erforderlich. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Ursachen des politischen Stillstands zu erkennen und gemeinsam mit Indigenen und lokalen Gemeinschaften in der Arktis kontextspezifisches und generationenübergreifendes Wissen zu generieren.

Es reicht nicht, nur Daten über die Folgen des Klimawandels für die Arktis zu sammeln, um aus der politischen Sackgasse herauszufinden. Stattdessen müssen exklusive Wissens-, Forschungs- und Politik-Netzwerke aufbrechen und jungen Menschen, Randgruppen und anderen „Außenseitern“ Zugang zu Fachkreisen ermöglicht werden, deren informelle Natur und „soziales Vertrauen“ das Ergebnis vieler Jahre kontinuierlicher Interaktionen sind. Wenn das Fachwissen, auf dem Arktis-Politiken aufbauen, nicht aus vielfältigen Quellen gewonnen wird, wird riskiert, auf schnellwirkende Technofixes zu vertrauen, die im besten Fall die gelebte Realität der arktischen Gemeinschaften in Frage stellen und sie im schlimmsten Fall gefährden.


Charlotte Gehrke ist Doktorandin an der Nord Universität und Stipendiatin des International Arctic Science Committee (IASC).

Dorothea Wehrmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IDOS in der Forschungsabteilung „Inter- und transnationale Zusammenarbeit“.

Dieser Text ist Teil des Forschungsprojekts „Sustainable Urban Development in the European Arctic (SUDEA): Towards Enhanced Transnational Cooperation in Remote Regions“ (Projektnummer 426674468), das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem National Science Centre (NCN) in Polen (2018/31/G/HS5/02448) gefördert wird.

Über die IDOS-Autorin

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