Die aktuelle Kolumne
Menschenrechte schützen: Prozesse fördern statt Produkte fordern
Böckenförde, MarkusDie aktuelle Kolumne (2010)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 29.11.2010)
Stockholm, Bonn, 29.11.2010. Die Bilanz ist beachtlich: Vor 62 Jahren begann mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) am 10. Dezember 1948 eine Periode des „Standardsetting“ im Bereich der Menschenrechte, die bis heute andauert. Die Erklärung ist Grundlage für mehr als 60 internationale und regionale Menschenrechtsverträge geworden. Menschenrechte wurden ausdifferenziert, präzisiert und verstärkt. Den bedeutendsten Rechten haben sich nahezu alle Staaten verpflichtet. Heute kommt kaum eine nationale Verfassung ohne einen ausführlichen Menschenrechtskatalog aus, der zu großen Teilen Abbild der AEMR ist. Hat es den Menschen vor Ort geholfen? Oftmals kaum. In vielen Ländern bleiben Menschenrechte und Menschenrechtsschutz Buchstaben auf dem Papier statt gelebte Realität.
Die Gründe hierfür sind vielfältig, einige sind hinlänglich bekannt: Meist verträgt sich das Verlangen nach Machterhalt der herrschenden Eliten in vielen Ländern nicht mit postulierten Menschen- und Bürgerrechten. Insbesondere in autoritären Regimen wie z. B. in Äthiopien oder Ägypten können Despoten ihnen keinen Raum geben, wollen sie ihren Machtanspruch nicht gefährden (z. B. in Äthiopien, Ägypten, etc.). Menschenrechtskataloge verkommen zur Fassade, weil es in solchen Staaten an unabhängigen und wirksamen nationalen Kontrollmechanismen zur Umsetzung fehlt. Oft wird diese Fassade in Kauf genommen. Während des Kalten Krieges zum Beispiel galt es, die Despoten im jeweiligen Lager zu halten (z. B. in Zaire, Angola, Nicaragua). Heute fällt es einer aktiven Menschenrechtspolitik häufig schwer, sich gegenüber Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen zu behaupten.
Es gibt aber auch weitere Gründe: Es ist zunächst unbestritten, dass in vielen Gesellschaften hohe Menschenrechtsstandards Ziel und Ansporn sein können, Ideale zu erreichen. Sie können Transformationsprozesse in Gang setzen und einen notwendigen Rahmen bieten, sich diesem Ziel zu nähern. Andere Gesellschaften hingegen leben nach Normen, denen manche gegenwärtige Menschenrechtsstandards fremd sind, seien es Diskriminierungsverbote im allgemeinen oder Rechte der Frauen im besonderen. Es besteht ein Nebeneinander von formellem staatlichen Recht, in das Menschenrechtsstandards integriert wurden, und (zumeist informellem) traditionellem Recht der Gemeinschaft. Die offiziellen, staatlichen Rechte haben sich nicht aus dem traditionellen Recht heraus entwickelt, sondern sind diesem gegenübergestellt. Hinzu kommt, dass faktisch oft nur ein Leben in der traditionellen Gemeinschaft die Grundlage des individuellen Überlebens garantiert, da staatliche Mechanismen, die eine soziale Absicherung jenseits dieser Gemeinschaft ermöglichen, real nicht existieren.
Die Menschenrechtsstandards des staatlichen Rechts bleiben dann Illusion, selbst wenn es effektive Mechanismen zu deren Durchsetzung gäbe (da auch diese in vielen Staaten meist fehlen, ist die Ausgangslage für die Betroffenen noch desolater). Die faktische Irrelevanz formellen Rechts droht auf diese Weise das Verständnis von gesetztem Recht auszuhöhlen, die Idee der Rechtsstaatlichkeit und von „rule of law“ wird entwertet.
Der Wandel traditioneller und soziokulturell geprägter Normen gelingt selten als Sprung, sondern ist vielmehr das Ergebnis eines langen Prozesses. Statt den Sprung einzufordern, mag es im Sinne eines effektiven Menschenrechtsschutzes und Rechtsverständnisses oftmals geeigneter sein, Veränderungsprozesse von außen zu unterstützen. Schließlich ist der gegenwärtige Standard an Menschenrechten in Westeuropa auch das Resultat eines langwierigen soziokulturellen Wertewandels. Dieser Wertewandel vollzog sich in wesentlichen Bereichen weitgehend im Gleichklang mit der Entwicklung, Anwendung und Auslegung des formellen Rechts.
Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Frauen in der Schweiz erhielten das aktive und passive Wahlrecht auf nationaler Ebene erst 1971 und es vergingen noch knapp weitere 20 Jahre, bis dieses Recht auch im letzen Kanton eingeführt wurde. Der Hauptgrund hierfür liegt im politischen System der Schweiz: Über Verfassungsänderungen entscheidet allein das stimmberechtigte Volk der Schweiz zusammen mit den Kantonen. Es bedurfte mithin einer mehrheitlichen Entscheidung der männlichen Bevölkerung, das Wahlrecht auf nationaler Ebene auch Frauen einzuräumen.
In Deutschland gelang es erst 1969 einen Großteil der Vorschriften aus dem Strafgesetzbuch zu streichen oder zu entschärfen, die „unmoralische“ Taten unter Strafe stellten (z. B. Unzucht zwischen Männern). Es dauerte bis 1994 und bedurfte der Pflicht zur Rechtsangleichung von Ost- und Weststrafrecht bis die strafrechtliche Diskriminierung homosexueller Männer gänzlich aufgehoben wurde. Liest man heute die Begründung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1957, das sowohl die Bestrafung der Unzucht unter Männern an sich, als auch die im Vergleich dazu bestandene Straflosigkeit der Unzucht unter Frauen mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte, überwiegt fassungsloses Staunen. Die einschlägigen Grundrechte haben sich seither nicht in relevanter Weise geändert. Dennoch ist anzunehmen, dass das Gesetz von damals heute für verfassungswidrig erklärt werden würde, der soziokulturelle Wertewandel also auch bei den höchsten deutschen Richtern angekommen ist.
Was diese Beispiele verdeutlichen sollen: Auch universelle Menschenrechte werden zumeist so formuliert und/oder ausgelegt, dass sie mit dem eigenen Wertesystem auf „Tuchfühlung“ bleiben. Sie mögen dem gesellschaftlichen Wertewandel ein Stück vorausgehen, ihn unterstützen oder beschleunigen, sie bleiben aber immer im Bezug zum Wertesystem. Nur so lässt sich die soziale Akzeptanz der Menschenrechte gewährleisten. Fehlt dieser Bezug, drohen Menschenrechte als exogene Produkte verstanden und nicht substantiell umgesetzt zu werden. Den Prozess des soziokulturellen Wandels abkürzen zu wollen, führt nur bedingt zum gewünschten Erfolg.
Es gibt zahlreiche Programme in der Entwicklungszusammenarbeit, welche die Notwendigkeit einer prozesshaften Durchsetzung von Menschenrechten erkannt haben. Genannt seien Projekte zur Eindämmung der Genitalverstümmelung bei Frauen in Afrika. Den Zugang zu den in der Gesellschaft hoch angesehenen Beschneiderinnen / Imamen zu gewinnen und sie zu Anführerinnen und Anführern des Umdenkens zu machen, hat oft mehr gebracht als gesetzliche Verbote und der Versuch ihrer Umsetzung.
Ein solcher Ansatz verschiebt den Fokus von der Übernahme von Standards durch Institutionen auf den Prozess der Internalisierung von Normen durch Akteure. Denn von deren Wertesystem hängt schließlich die Wirksamkeit formellen Rechts ab. Die Tatsache, dass Verfassungen sowie Gesetze schneller umgeschrieben werden können als Wertesysteme, mag den Hang zur Produktorientierung erklären. Sich in Erinnerung zu rufen, dass auch im westlichen Europa die Menschenrechtssozialisation eine langsame Entwicklung war, könnte die Geduld und somit die Bereitschaft zu einer Prozessorientierung steigern.
Der Beitrag stellt die persönliche Meinung des Autors dar und muss sich daher nicht mit den Ansichten von IDEA, TransMit oder des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) decken.
<link>Dr. Markus Böckenförde, LL.M. (UMN)
Acting Programme Manager, Constitution Building Processes, International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA); Mitglied von TransMit, Universität Gießen