Die aktuelle Kolumne
Keine Stabilität ohne soziale Sicherheit
Loewe, Markus / Christoph StrupatDie aktuelle Kolumne (2017)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 27.10.2017)
Bonn, 27.10.2017. Die derzeit laufenden Koalitionsverhandlungen sollten<link internal-link internen link im aktuellen> soziale Sicherungssysteme zu einem zentralen Thema deutscher Entwicklungszusammenarbeit (EZ) machen. Selbst wenn sich das globale Wirtschaftswachstum stark beschleunigt, wird es vor allem in <link internal-link internen link im aktuellen>Afrika noch sehr lange brauchen, um die dortige Armut zu beseitigen. Darum müssen soziale Grundsicherungssysteme aufgebaut werden, um Gesellschaften und Staaten zu stabilisieren. Denn wenn noch mehr Staaten zerfallen, kann es zu neuen Kriegen und einem weiteren Anstieg der <link internal-link internen link im aktuellen>Migration nach Europa kommen.
Projektionen der Weltbank zeigen, dass das <link internal-link internen link im aktuellen>erste Nachhaltigkeitsziel (Beseitigung der extremen Armut) global nicht bis 2030 erreicht wird, wenn nicht das Wirtschaftswachstum zunimmt und auch erheblich mehr Einkommen zu den Ärmsten umverteilt wird. Dies gilt umso mehr für Subsahara Afrika, wo der Anteil der extrem Armen noch immer sehr groß und das Wirtschaftswachstum volatil ist.
Umverteilung kann über staatliche Bildungs- und Gesundheitssysteme stattfinden, v.a. aber über soziale Grundsicherungssysteme, die Bargeldtransfers an arme Haushalte leisten. Diese können, je nach Bedarf, unterschiedliche Zielgruppen begünstigen. Und sie können an eine Bedingung geknüpft sein – zum Beispiel, dass Kinder in die Schule gehen (cash for education) oder Erwachsene Arbeitsleistungen beim Aufbau lokaler Infrastruktur erbringen (cash for work).
Lange argumentierten viele Politiker, dass Entwicklungsländer erst ökonomisch wachsen müssten, bevor sie sich Sozialpolitik leisten können. Internationale Vergleiche zeigen jedoch, dass auch arme Länder soziale Grundsicherungssysteme finanzieren können. Im Durchschnitt geben sie hierfür keineswegs einen deutlich kleineren Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIPs) aus als reiche Länder. Und es lässt sich auch mit vergleichsweise kleinen Beträgen viel erreichen. Lesotho zum Beispiel wendet 6% des Bruttoinlandsprodukts (BIPs) für Sozialtransfers auf, obwohl sein Prokopfeinkommen nur rund 1200 US-Dollar pro Jahr beträgt. Es baute u.a. – sogar gegen den Rat der internationalen Geber – ein Sozialrentensystem auf, das heute als äußerst erfolgreich gilt, obwohl es nur 1,8 % des BIP kostet. Malawi und Peru besitzen Sozialhilfesysteme, die nur 0,1-0,2% des BIP kosten. Äthiopiens cash for work-Programm unterstützt sieben Millionen Haushalte, kostet aber ebenfalls nur 0,65% des BIP.
Entscheidend ist, dass soziale Sicherung nicht nur eine soziale, sondern auch eine bedeutsame ökonomische und politische Funktion hat. In der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008-2009 zeigte sich, dass Länder mit leistungsfähigen sozialen Grundsicherungssystemen externe ökonomische Schocks besser verkraften, weil diese verhindern, dass auch die Binnennachfrage stark nachgibt.
Zudem ermutigt der Zugang zu solchen Systemen insbesondere einkommensschwache Haushalte dazu, zu investieren und sich dadurch selbst aus Armut zu befreien. Menschen ohne soziale Sicherheit scheuen Risiken. Können sie überhaupt je Ersparnisse bilden, so horten sie diese, anstatt zu investieren. Denn sie brauchen die Ersparnisse am dringendsten, um Schocks wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit zu bewältigen. Erst wenn sie ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gegen die wichtigsten derartigen Risiken haben, sind sie bereit, in Produktionsmittel oder eine Ausbildung zu investieren. Hiermit gehen sie nämlich neue Risiken ein: Im günstigen Fall steigern sie ihr Einkommen deutlich, jedoch kann sich die Ausgabe im Extremfall auch als Fehlinvestition erweisen. Soziale Sicherung wird somit nicht erst durch Wirtschaftswachstum ermöglicht, sondern sie ermöglicht Wirtschaftswachstum – und zwar vor allem solches, das breitenwirksam (pro-poor) ist, weil es von den Armen selbst ausgeht.
Schließlich ist soziale Grundsicherung auch deswegen eine gute Investition, weil sie Staat und Gesellschaft stabilisiert – und damit auch für Investoren die notwendigen Rahmenbedingungen schafft. Soziale Sicherheit fördert die soziale Inklusion benachteiligter Menschen, indem sie diese soziale Teilhabe ermöglicht. Dadurch steigert sie die Zufriedenheit der Bürger und die Akzeptanz der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung und verringert die Gefahr von Aufstand und Krieg.
In den middle-income countries sollte deutsche Entwicklungszusammenarbeit den Ausbau sozialer Grundsicherungssysteme vor allem durch Beratung und begrenzte finanzielle Anreize fördern. Die laufenden Kosten können die meisten dieser Länder durch Umschichtungen im Staatshaushalt finanzieren. Die low-income countries hingegen sind darauf angewiesen, dass die internationale Gebergemeinschaft zumindest für eine bestimmte Zeit auch die laufenden Transferzahlungen finanziert. Zumindest können diese anbieten, eine Aufstockung der Transfers zu übernehmen, wenn Wirtschaftsschocks oder Naturkatastrophen drohen oder auftreten.
Nicht nur die Entwicklungsländer, sondern auch Europa sollten größtes Interesse daran haben, soziale Sicherungssysteme zu schaffen und auszubauen. Eine nachhaltige Stabilisierung etwa der Staaten in Afrika hilft auch Europa, weil sie das Risiko neuer Bürgerkriege, des Zerfalls von Staaten und damit einer weiteren Zunahme des Migrationsdrucks auf Europa senkt.