Die aktuelle Kolumne
Hans Singer Memorial Lecture: Bonn ehrt herausragenden Entwicklungsforscher des 20. Jahrhunderts
Fues, ThomasDie aktuelle Kolumne (2009)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 11.05.2009)
Bonn, 11.05.2009. Am 18. Mai 2009 findet erstmals die <link internal-link internal link in current>Hans Singer Memorial Lecture on Global Development statt. Damit ehren das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE), das Institut für politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn sowie das Institute of Development Studies (Universität von Sussex) einen der einflussreichsten europäischen Entwicklungsforscher des 20. Jahrhunderts, dessen akademische Karriere an der Universität Bonn begann. Das Diplom in Volkswirtschaftslehre erwarb er dort im Jahr 1931. Für die anschließende Promotion hatte er bereits die Unterstützung des später zu hohen Ehren gelangten Bonner Nationalökonomen Joseph Schumpeter gewonnen, der jedoch bald an die Harvard Universität wechselte. Eine neu begonnene Dissertation war halb fertig, als Singer 1933 wegen seines jüdischen Glaubens zur Flucht vor dem nationalsozialistischen Terrorsystem gezwungen wurde. 1934 gelangte er auf Umwegen nach Großbritannien an die Cambridge Universität, wo er bald zur Gruppe um John Maynard Keynes gehörte.
Sir Hans Singer, 1994 durch die britische Königin geadelt, hat seit dem 2. Weltkrieg wie kaum ein Anderer die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ländern des Südens, aber auch die praktische Entwicklungspolitik geprägt. Ab 1947 war er mehr als zwei Jahrzehnte an führender Stelle im Entwicklungsbereich der Vereinten Nationen tätig. Danach, bis zu seinem Tod im Jahr 2006, lehrte und forschte er am Institute of Development Studies (IDS) in Brighton, Großbritannien. Zeit seines Lebens betrieb Singer eine anwendungs- und beratungsorientierte Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften mit hohem moralischem Anspruch. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er bislang relativ wenig Anerkennung in seiner fachlichen Disziplin, außerhalb der Entwicklungsforschung, gefunden hat.
Bei der UN entwickelte Singer seine international viel beachtete Theorie über die langfristige Verschlechterung der internationalen Austauschverhältnisse (terms of trade) für Rohstoff exportierende Entwicklungsländer, die heute als Prebisch-Singer-These zum Kernbestand der internationalen Wirtschaftswissenschaft zählt. Demnach ist die weltwirtschaftliche Integration auf der Basis von landwirtschaftlichen und mineralischen Ausfuhrprodukten für diese Gruppe von Nachteil, während die Industriestaaten im internationalen Warenhandel systematisch besser gestellt werden. Als strukturelle Ursache für diesen entwicklungspolitisch alarmierenden Wirkungszusammenhang sah Singer institutionelle Unterschiede in den Arbeitsmärkten von Entwicklungs- und Industrieländern. Bahnbrechende Erkenntnisse von unmittelbarer Praxisrelevanz veröffentlichte Singer auch im Zusammenhang mit einer Mission der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nach Kenia, die er Anfang der 1970er Jahre zusammen mit dem renommierten Entwicklungswissenschaftler Sir Richard Jolly (IDS) leitete. Aus ihren Analysen vor Ort entwickelten die beiden Wissenschaftler das innovative Konzept der Umverteilung mit Wachstum, das die Anerkennung und Aufwertung des informellen produktiven Sektors einschloss.
Neben seinen theoretischen Impulsen für die Entwicklungsforschung leistete Singer maßgebliche konzeptionelle Beiträge zum Aufbau und zur Qualifizierung von internationalen Einrichtungen, meist unter dem Dach der Vereinten Nationen. Dies gilt etwa für das Kinderhilfswerk UNICEF, das Welternährungsprogramm, die Afrikanische Entwicklungsbank, das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), die UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) und das UN-Forschungsinstitut für soziale Entwicklung.
Singers Publikationsliste mit Hunderten von Einträgen zeugt von einer außergewöhnlichen Schaffenskraft und dokumentiert gleichzeitig die große Bandbreite seines wissenschaftlichen Interesses über eine 70 Jahre andauernde wissenschaftliche Laufbahn. Seinen letzten Vortrag hielt er eine Woche vor seinem 95. Geburtstag zum Ursprung des 0,7-Prozent-Ziels in der Entwicklungspolitik. Beeinflusst durch die eigene Biografie hat sich Hans Singer immer für soziale Gerechtigkeit, menschliche Entwicklung und Armutsbekämpfung als zentrale Anliegen für Wissenschaft und Politik eingesetzt. Und er vertraute in die friedensstiftende Wirkung von internationalen Institutionen, insbesondere der Vereinten Nationen.
Singer hat zahlreiche Ehrungen erhalten und breite internationale Anerkennung gefunden; fünf Festschriften wurden ihm gewidmet. In Deutschland hat ihm die Universität Freiburg 2004 die Ehrendoktorwürde verliehen. Der diesjährige Festredner der Memorial Lecture, Prof. Paul Collier von der Oxford Universität, wird das zentrale intellektuelle Erbe Singers, den Verfall der terms of trade für Rohstoffexporteure, auf seine Gültigkeit anhand aktueller empirischer Daten überprüfen. Die Lecture wird von nun ab im jährlichen Wechsel zwischen Bonn und Brighton stattfinden. Es ist zu hoffen, dass es auf diese Weise gelingt, dem phänomenalen Wirken Hans Singers eine noch größere Resonanz in seinem Geburtsland und am deutschen UN-Standort Bonn zu verschaffen.