Die aktuelle Kolumne
Haiti: die internationale Hilfe läuft Gefahr, die Partner zu ersetzen statt zu stärken
Ashoff, GuidoDie aktuelle Kolumne (2013)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 25.02.2013)
Bonn, 25.02.2013. Haiti ist der breiteren Öffentlichkeit wegen des verheerenden Erdbebens vom Januar 2010 noch in trauriger Erinnerung. Es hat schätzungsweise 250.000 Todesopfer gefordert und mehr als eine Millionen Menschen obdachlos gemacht. Auf die Jahrhundertkatastrophe folgten weitere Katastrophen wie die im Oktober 2010 ausgebrochene Choleraepidemie oder die Wirbelstürme Isaac und Sandy 2012, die dramatische Überschwemmungen verursacht und einen großen Teil der Ernten zerstört haben. Dies alles geschah in einem Land, das ohnehin schon zur Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder gehört.
Die internationale Gemeinschaft engagiert sich in Haiti seit langem. Haiti ist eines der Länder mit der höchsten Pro-Kopf-Entwicklungshilfe und war dies schon vor dem Erdbeben 2010. Nach dem Beben hat die internationale Gemeinschaft nach Angaben des Büros des UN-Sondergesandten für Haiti, Bill Clinton, für 2010–2012 öffentliche Hilfe (ohne Schuldenerlass) in Höhe von 10,37 Mrd. US$ zugesagt. Davon entfallen 2,57 Mrd. US$ auf humanitäre Hilfe als Reaktion auf das Erdbeben und die Choleraepidemie und 7,8 Mrd. US$ auf Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe. Hinzu kommen mindestens 3 Mrd. US $ private Spenden an ausländische Nichtregierungsorganisationen (NROs) und UN-Einrichtungen zugunsten von Haiti. Zusammen entspricht dies mehr als dem Bruttoinlandsprodukt des Landes von ca. 12 Mrd. US$ im Jahr 2011.
So weit, so (schlecht und) gut? Nicht ganz. Vor kurzem hat der langjährige Korrespondent von Associated Press (AP) in Haiti, Jonathan M. Katz, ein Buch mit dem Titel „The Big Truck That Went By. How the World Came to Save Haiti and Left Behind a Disaster” veröffentlicht. Katz trieb die Frage um, was aus den enormen internationalen Hilfszusagen geworden ist. Seine Antwort: Erstens sei ein großer Teil der Mittel noch nicht ausgezahlt und daher den Menschen nicht zugutegekommen. Zweitens habe die internationale Gemeinschaft weitgehend an der haitianischen Regierung und Zivilgesellschaft vorbei agiert, sie also nicht gestärkt, sondern schwach gehalten.
Nun ja, möchte man sagen: wieder ein Verriss der internationalen Entwicklungszusammenarbeit nach zahlreichen anderen. Leider befindet sich Katz jedoch, auch wenn er viele persönliche Erlebnisse schildert und eher journalistisch als wissenschaftlich argumentiert, mit seiner Kritik durchaus in professioneller Gesellschaft. Geht man seinen Argumenten nach, so ergibt sich folgendes Bild:
Die für 2010–2012 von Regierungen zugesagte humanitäre Hilfe wurde immerhin zu 94 % ausgezahlt. Auszahlung bedeutet dabei die Überweisung an eine Durchführungsorganisation, jedoch noch nicht notwendigerweise den Abschluss einer Maßnahme. Finanziert wurden in erster Linie medizinische Betreuung, Nahrungsmittelhilfe und Bereitstellung von Notunterkünften. Vielen Menschen konnte so geholfen werden. Anders sieht es bei der Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe aus, die nach dem Versprechen der internationalen Geberkonferenz für Haiti vom März 2010 in New York „eine neue Zukunft“ für das Land begründen sollte. Von den für 2010–2012 insgesamt zugesagten Mitteln von 7,8 Mrd. US$ wurden erst 51 % ausgezahlt. Bei der haitianischen Bevölkerung macht sich trotz einiger Verbesserungen (z. B. bei der materiellen Infrastruktur) Enttäuschung über die langsamen Fortschritte breit. Nun erlaubt eine Auszahlungsquote von 51 % innerhalb von drei Jahren noch keine abschließende Bewertung. Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe hat naturgemäß längerfristigen Charakter und ist in fragilen Kontexten besonders schwierig. Überdies haben Programme je nach Art unterschiedliche Durchführungszeiten. Schließlich sind Auszahlungen kein Selbstzeck; entscheidend sind die mit ihnen erzielten Entwicklungswirkungen. Trotzdem ist angesichts der Ankündigungen der internationalen Gebergemeinschaft schnelleres Handeln notwendig. Bill Clinton forderte im Bericht „Can More Aid Stay in Haiti and Other Fragile Settings?“, den sein Büro im November 2012 vorgelegt hat, die Auszahlungen zu steigern.
Schwerer wiegt, dass der größte Teil der Auszahlungen 2010–2012 außerhalb des staatlichen Finanzmanagements und Beschaffungswesens Haitis, d. h. an der Regierung vorbei, erfolgt ist. Bei der humanitären Hilfe waren dies 99 %, bei der Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe 86 %. Multilaterale Geber haben die staatlichen Systeme stärker genutzt als bilaterale Geber. Selbst wenn man einräumt, dass die Handlungsfähigkeit der Regierung in der ersten Zeit nach dem Beben stark eingeschränkt war (zahlreiche Ministerien waren ganz oder teilweise zerstört) und es bei humanitärer Hilfe auf rasches Handeln ankommt, ist die nahezu vollständige Umgehung des Staates problematisch. Immerhin hatte die haitianische Regierung für die Geberkonferenz im März 2010 in New York einen Wiederaufbauplan vorgelegt. Überdies hatten die internationalen Geber auf der Konferenz angekündigt, ihre Hilfe in einer Weise umzusetzen, die die Autorität des Staates stärkt und die Kapazitäten zentraler wie lokaler Institutionen verbessert.
Ein immer wieder vorgebrachtes Argument lautet, dass die schwachen staatlichen Strukturen und die verbreitete Korruption in Haiti eine schnellere ordnungsgemäße Verwendung der Mittel verhindern. Richtig ist, dass Haiti in der internationalen Liste der gescheiterten Staaten (Failed StatesIndex 2012) mit Rang 7 (unmittelbar nach Afghanistan) zur unrühmlichen Spitzengruppe gehört. Beim internationalen Korruptionsindex von Transparency International 2012 liegt Haiti mit Platz 165 am unteren Ende von 176 Staaten. Dennoch ist diese Argumentation nicht die ganze Wahrheit. Die internationale Gemeinschaft muss sich vorhalten lassen, dass sie zu wenig für die Überwindung dieser Situation tut und den beklagten Strukturschwächen noch Vorschub leistet. Damit droht ein Teufelskreis.
Dies wird nicht nur von Journalisten wie Katz behauptet, sondern auch von offizieller Seite bestätigt. In der "Paris-Erklärung zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit" von 2005 hatte sich die internationale Gebergemeinschaft verpflichtet, die Eigenverantwortung der Partnerländer zu respektieren und deswegen u. a. möglichst die öffentlichen Finanz- und Beschaffungssysteme der Partner zu nutzen und zu stärken. Und in den „Prinzipien für Internationales Engagement in fragilen Staaten und Situationen“ von 2007 hat sie sich klar zum Grundsatz bekannt: „Die Staatsbildung als zentrales Ziel betrachten.“
Bei der Überprüfung der Umsetzung dieser Verpflichtungen kam die OECD 2011 im Länderbericht Haiti zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die massive internationale Präsenz in Haiti die nationalen Institutionen nicht gestärkt, sondern im Gegenteil teilweise an die Stelle des Staates getreten ist. Bill Clinton forderte in seinem Bericht deshalb, Programme zu unterstützen, die unter der Verantwortung und Leitung Haitis durchgeführt werden, mehr Mittel über haitianische Institutionen und nationale Beschaffung abzuwickeln und mehr für den Aufbau von Kapazitäten im Land zu tun.
Sind NROs besser als öffentliche Geber? Nicht unbedingt. Ausländische NROs (und private Dienstleister) spielen eine enorme Rolle in Haiti, nicht nur wegen der erwähnten 3 Mrd. US$ an privaten Spenden, sondern auch deshalb, weil sie in erheblichem Umfang als Durchführungsorganisationen der öffentlichen Geber agieren. Die Studie „Haiti: Where Has All the Money Gone?“ des Center for Global Development (CGD) in Washington vom Juni 2012 spricht von einem quasi-privaten Staat in Haiti. Sie weist darauf hin, dass ausländische NROs auf lokaler Ebene mitunter einen größeren Einfluss auf die Politik haben als die Bevölkerung, während ihre Rechenschaftslegung häufig sehr zu wünschen übrig lässt. Die CDG-Studie fordert daher mehr Transparenz in Bezug auf Mitteleinsatz und Aktivitäten und vor allem systematische Evaluierungen der erzielten Wirkungen. Zu ergänzen ist, dass die Forderung von Bill Clinton nach Stärkung der nationalen Kapazitäten in Haiti auch für ausländische NROs gilt. Auch sie sollten ihr vornehmstes Ziel darin sehen, sich und nicht die lokalen Partner überflüssig zu machen.
Eine Besprechung des Buches von Katz durch eine AP-Redakteurin vom 21.01.2013 zog den Schluss, dass man zweimal nachdenken sollte, bevor man an eine internationale Hilfsorganisation spendet. Weitere Reaktionen dieser Art werden wohl nicht ausbleiben. Leider lässt die Rezensentin offen, worüber denn der geneigte Spender nachdenken soll. Hier ein Vorschlag: Spender (und Steuerzahler) sollten von Organisationen der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit Auskunft darüber verlangen, was sie bewirkt (und nicht nur getan) haben, und inwieweit es ihnen gelungen ist, die Partner nachhaltig zu stärken. Informationen hierzu sollten im Mittelpunkt der entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit stehen.