Die aktuelle Kolumne
Gibt es universelle Werte?
Lätt, JeanneDie aktuelle Kolumne (2010)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 08.11.2010)
Bonn, 08.11.2010. Gibt es universelle Werte? Diese Frage wurde im Rahmen einer Veranstaltung zu Menschenrechten gestellt, an der sowohl deutsche als auch ausländische Teilnehmer von Ausbildungskursen des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik teilnahmen. Das Ergebnis war aufschlussreich: Die Teilnehmenden aus Deutschland beantworteten die Frage ausnahmslos mit ja, während die internationalen Gäste – alle aus wirtschaftlich fortgeschrittenen Entwicklungsländern – sie allesamt verneinten.
Die Frage nach Werten und Normen, die über nationale und kulturelle Grenzen hinaus Gültigkeit haben, ist mehr als nur ein interessantes Gedankenexperiment. Seit den Neunziger Jahren vertreten vor allem europäische Staaten die Auffassung, dass die globalen Dimensionen des Klimawandels, das Nord-Süd Gefälle oder der internationale Terrorismus grenzübergreifende Lösungsansätze erfordern. Die Stärkung multilateraler Institutionen und Instrumente und damit auch die Verrechtlichung des internationalen Systems stehen dabei im Mittelpunkt.
Aufstrebende Schwellenländer haben eigene Vorstellungen
Parallel dazu setzt sich die Einsicht durch, dass wir mit dem Aufstieg wirtschaftlich bedeutender Entwicklungsländer wie China, Indien oder Brasilien in eine neue welthistorische Phase der Multipolarität eintreten. Ob man sie nun „emerging powers“, „emerging economies“ oder Schwellenländer nennen will: die Rolle Chinas bei der Bewältigung der Finanzkrise, die Verschiebung der Stimmgewichte im Internationalen Währungsfonds (IWF) zugunsten der Schwellenländer oder die wachsende Bedeutung der G20 sind ein klares Zeichen dafür, dass wichtige Entwicklungsländer auf dem Weg ins „globale Establishment“ sind. Sie werden zunehmend als gleichwertige Partner in internationale Entscheidungsprozesse einbezogen.
Diese Länder werden aber nicht ohne weiteres die Parameter internationaler Zusammenarbeit akzeptieren, die im Laufe der letzten Jahrzehnte unter westlicher Dominanz entstanden sind. Dafür gibt es bereits Anzeichen: In der Welthandelsorganisation üben Schwellenländer seit Beginn der Doha Runde (2001) vermehrt Druck aus, um die Interessen der Entwicklungsländer durchzusetzen. Die Klimaverhandlungen der letzten Jahre und letztlich auch deren Scheitern in Kopenhagen (2009) sind vor allem auf unterschiedliche Vorstellungen der Industrie- und Schwellenländer von globaler Verantwortung und Anspruchsrechten – im Sinne der Verteilung von Emissionsrechten – zurückzuführen. Und in der Entwicklungszusammenarbeit profilieren sich China und andere Länder des Südens als „neue Geber“ und setzen die traditionellen Prinzipien und Verfahren der westlichen Geber unter Druck.
Universelle Werte, ja oder nein?
In dieser Szenerie ist eine Wertedebatte vorprogrammiert. Vertreter des Global Governance Ansatzes gehen davon aus, dass eine effiziente Bearbeitung von Weltproblemen nur auf der Grundlage geteilter Werte und der Verbreitung globaler Normen und Standards gelingen kann. Aber lässt sich dieser Anspruch vor dem Hintergrund der Pluralität und Komplexität der heutigen Gesellschaft überhaupt verwirklichen?
Außerdem werden in vielen Entwicklungsländern Stimmen laut, die ein tiefes Misstrauen gegenüber „angeblich“ universellen Normen ausdrücken. Das Ergebnis der eingangs erwähnten Abfrage ist dafür symptomatisch. Der Anspruch der Universalität, so lautet die Kritik, sei im Grunde nichts anderes als der Ausdruck von Partikularinteressen und von westlichen Vorstellungen dessen, was „gut“ sei. Und die Befürchtung besteht, dass Internationale Organisationen in die Souveränität von Nationalstaaten eingreifen könnten, um Prinzipien durchzusetzen, die als universelle daher kommen, hinter denen aber Partikularinteressen stehen.
Nun sind diese beiden gegensätzlichen Positionen nicht einfach aufzuheben, auch wenn man mit Fug und Recht argumentieren kann, dass unter dem Dach der Vereinten Nationen im Laufe der Jahrzehnte eine Reihe von Prinzipien ausgehandelt wurden, die sehr stark normativ geprägt sind und die von den meisten Staaten zumindest formal anerkannt werden. Dies betrifft die Menschenrechte, das Arbeitsrecht, das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung und der Armutsbekämpfung. Tatsache ist, dass nationales und internationales Handeln bereits zusehends von globalen Normen und Regeln bestimmt wird und dass die internationale Verregelung zunimmt.
Den internationalen Dialog verstärken
Trotzdem ist es wichtig, das von manchen Entwicklungsländern geäußerte Unbehagen im Umgang mit universellen Werten ernst zu nehmen. Die Weltgemeinschaft ist für die Lösung grenzüberschreitender Probleme verstärkt auf die Kooperation zwischen Nord und Süd angewiesen. Die aufstrebenden Schwellenländer können aber nur dann von der Sinnhaftigkeit gemeinsamer Anstrengung zur Lösung globaler Probleme überzeugt werden, wenn die westlichen Industrieländer auf deren Bedenken eingehen. Und wenn die Schwellenländer die Möglichkeit erhalten, einen entscheidenden Beitrag zu den normativen Grundlagen des internationalen Systems zu leisten.
Dazu müssen Gelegenheiten geschaffen werden, um gemeinsam über Inhalte und Normen internationaler Zusammenarbeit zu sprechen. Ein solcher Nord-Süd Dialog sollte unbedingt die zum Teil unterschiedlichen Wahrnehmungen und Gewichtungen der Weltprobleme berücksichtigen. Denn Prioritäten sind nicht automatisch gegeben. Noch immer werden in Entwicklungsländern in der Regel Armut und sozialer Ungleichheit eine größere Bedeutung zugeschrieben als Umweltproblemen und der Schutz von Minderheiten. Und der Klimaschutz steht nicht in allen Schwellenländern auf der Prioritätenliste gleich weit oben wie beispielsweise in Europa. Den politischen Willen zum gemeinsamen globalen Handeln werden die wichtigen Akteure aber nur dann aufbringen, wenn sich alle mit den globalen Zielsetzungen identifizieren können.
Die aufstrebenden Schwellenländer ihrerseits sind gefordert, sich konstruktiv an der Gestaltung der zukünftigen Weltordnung zu beteiligen. Sie haben bisher die internationalen Organisationen zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen genutzt und überlassen es den alten Industrieländern, Initiativen zur Förderung nachhaltiger globaler Entwicklung voranzutreiben. Dass Ländern wie China und Brasilien in Internationalen Organisationen wie dem IWF oder durch ihre Mitgliedschaft in der G20 eine größere Rolle zugestanden wird, ist grundsätzlich ein positives Zeichen. Nun müssen sie bei der Bearbeitung von Weltproblemen und der normativen Gestaltung von Global Governance auch stärker in die Pflicht genommen werden. Das wird nicht möglich sein ohne eine grundsätzliche Debatte über Werte, die traditionelle Industriestaaten und Schwellenländer gleichermaßen mit einschließt.