Die aktuelle Kolumne
Ein Friedensnobelpreis für die Zivilgesellschaft Tunesiens
Schäfer, IsabelDie aktuelle Kolumne (2015)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 14.10.2015)
Bonn, 14.10.2015. Die Verleihung des Friedensnobelpreises setzt das richtige Signal: Die vier Preisträger sind zentrale zivilgesellschaftliche Organisationen, welche die jüngere Geschichte Tunesiens erheblich mitgeprägt haben: die Gewerkschaft Union Générale des Travailleurs Tunisiens (UGTT), der Arbeitgeberverband Union Tunisienne de l’Industrie, du Commerce et de l’Artisanat (UTICA), die unter dem Ben Ali-Regime drangsalierte Ligue Tunisienne des Droits de l’Homme (LTDH)“ und die Anwaltskammer Ordre National des Avocats de Tunisie. Im Rahmen des sogenannten Quartetts haben sie 2013 durch einen „nationalen Dialog“ verhindert, dass das Land ins Chaos abdriftet. Sie stehen stellvertretend für Arbeitswelt und Wohlstand, für Rechtsstaat und Menschenrechte. Und sie stehen letztendlich für die gesamte tunesische Zivilgesellschaft, die mit einem unglaublichen Kraftakt den demokratischen Transitionsprozess bis heute tapfer und mutig am Leben erhalten hat.
Doch so konstruktiv und konsensorientiert wie 2013 arbeiten die Quartett-Mitglieder in letzter Zeit gar nicht zusammen. Zwei der vier Preisträger müssten eigentlich ein schlechtes Gewissen haben: denn in den letzten Monaten haben die Gewerkschaft UGTT und der Arbeitgeberverband UTICA sich untereinander und mit der Regierung mehr über Partikularinteressen gestritten und gegenseitig beschimpft als nach sozialem Frieden gesucht. Die Gesamtentwicklung Tunesiens wurde darüber oft vergessen. Zahlreiche und lange Streiks lähmten auch 2015 ganze Wirtschaftszweige (Phosphatindustrie) oder Teile des Transport- oder Bildungssystems. Auch intern ist die UGTT zwischen den kompromissbereiteren nationalen und lokalen Führungsebenen sowie mit der „revolutionäreren“ Basis zerstritten. Die Unternehmer wiederum, vertreten durch UTICA, geben u.a. der UGTT die Schuld an der aktuellen Wirtschaftskrise. Die Proteste schrecken ausländische Investoren ab, von denen es in Tunesien sowieso zu wenige gibt. Aber auch UTICA kann sich nicht auf einen gemeinsamen zukunftsfähigen ökonomischen Reformkurs einigen, basierend auf einer dem Sozialdialog verpflichteten und dynamischen Wirtschaft.
Trotz dieser Spannungen ist der Nobelpreis sehr wohl verdient und bedeutet eine Anerkennung der konstruktiven Rolle des Quartetts in der Überwindung der schwierigen politischen Krise von 2013. Dies konnte gelingen dank der Absage an Partikularinteressen, parteipolitisches Gerangel und an die Polarisierung zwischen Säkularen und Islamisten. Vor allem symbolisiert er eine Stärkung der Zivilgesellschaft an sich. Angesichts zunehmender Repression gegen zivilgesellschaftliche Akteure auf globaler Ebene, und den aktuellen Entwicklungen in Ägypten, wo zivilgesellschaftliche Organisationen wieder massiv eingeschränkt und überwacht werden, würdigt das Nobelpreis-Komitee hier ganz bewusst und explizit die zentrale Rolle der Zivilgesellschaft im tunesischen Transitionsprozess. Auch in Tunesien bestehen unter Menschenrechtsorganisationen Sorgen über eine potentielle Rückkehr repressiver Mechanismen oder einer erneuten Einschränkung der durch die tunesische Revolution 2011 gewonnenen Freiheiten (z. B. Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit). Der Ausnahmezustand, eine Antwort auf den Anschlag von Sousse im Juni 2015, wurde zwar Anfang Oktober wieder aufgehoben. In den politischen Parteien finden sich jedoch erneut Anhänger des alten Regimes, insbesondere in der Regierungspartei Nida Tounes. So kann der alte Sicherheitsreflex angesichts der realen Bedrohung durch radikalen „homegrown“-Terrorismus und IS-Syrienrückkehrer wiederbelebt werden.
Die Anerkennung der bisherigen erheblichen Fortschritte im Demokratieprozess (neue Verfassung, freie Wahlen, Parteienpluralismus, nationaler Dialog u.a.) und die Ermutigung auf diesem Weg weiter zu machen sind zum jetzigen Zeitpunkt sehr wichtig. Denn in den letzten Monaten hatten sich durch die sozio-ökonomischen Schwierigkeiten, die beiden schockierenden Terroranschläge im Bardo-Museum von Tunis und in Sousse sowie durch die gewaltsamen Entwicklungen in Libyen und im Syrien-Konflikt in der tunesischen Gesellschaft Resignation und Zukunftspessimismus verbreitet.
Nach jahrelanger autoritärer Unterdrückung haben sich eine Vielzahl an gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Strömungen und Kräften herausgebildet. Diese driften teilweise stark auseinander. Eine der zentralen Herausforderungen ist es daher, aus dieser Gemengelage heraus einen neuen gesellschaftlichen Konsens aufzubauen und sozialen Frieden herzustellen. Hierfür werden starke inklusive Akteure gebraucht, wie sie das Quartett verkörpert. Es geht darum, wieder mehr Führung zu übernehmen und gemeinsam eine Vision für die soziale und ökonomische Zukunft Tunesiens zu entwickeln.
Der Preis beinhaltet letztendlich auch den unausgesprochenen Auftrag an die Zivilgesellschaft sowie an die staatlichen Akteure trotz aller Widrigkeiten nicht aufzugeben. Hierzu sind sowohl die Solidarität zwischen den sehr unterschiedlichen Mitgliedern des „Quartetts“, zwischen Bürgern und Staat und internationale Solidarität erforderlich, die Tunesien mit dieser großen Verantwortung nicht alleine lässt.