Die aktuelle Kolumne

Die Europawahlen und die europäische Entwicklungspolitik

Dringend gesucht: Fraktionen mit einer Vision

Koch, Svea / Niels Keijzer / Christine Hackenesch
Die aktuelle Kolumne (2024)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 13.05.2024

Bonn, 13. Mai 2024. Eine aktuelle Eurobarometer-Umfrage zeigt, dass die EU-Bürger*innen großes Interesse an den anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) haben. Gleichzeitig lassen Umfragen starke Zugewinne für rechtspopulistische und europaskeptische Parteien erwarten, während vor allem Grüne, Liberale und Linke Parlamentssitze verlieren dürften. Ein derartiges Wahlergebnis würde das politische Kräfteverhältnis im EP verschieben. Das EP wäre nach der Wahl europaskeptischer und stärker an nationalen Interessen orientiert, zu Lasten progressiver und proeuropäischer Stimmen.

Um zu verstehen, was eine solche Machtverschiebung im EP für die internationale Zusammenarbeit bedeuten würde, haben wir uns die Wahlprogramme der EP-Fraktionen angesehen. Die meisten Programme werfen eine selektive Perspektive auf die EU-Außenbeziehungen und fokussieren auf Verteidigung und Sicherheit, Migration oder Wirtschafts- und Handelsinteressen. Entwicklungspolitik kommt höchstens am Rande vor. Dies ist wenig überraschend, da Entwicklungspolitik in Wahlprogrammen – auch auf nationaler Ebene – traditionell keinen hohen Stellenwert einnimmt.

Wo die Entwicklungspolitik aber doch in den Programmen auftaucht, spiegeln die Positionen der Fraktionen im Allgemeinen das klassische Rechts-Links-Schema wider. Bei den Sozialdemokraten heißt es beispielsweise: „Oberstes Ziel der Entwicklungspolitik muss es sein, das Leben der Menschen in unseren Partnerländern zu verbessern.“ Die Grünen richten ihr Augenmerk auf die internationale Klimadiplomatie und fordern eine Weiterentwicklung der Entwicklungspolitik zu einer global gerechten Transition sowie einen „detaillierten Ansatz zur Überprüfung des EU-Budgets für die internationale Zusammenarbeit und dessen Abstimmung auf die Agenda 2030“.

Das Wahlprogramm der Linken enthält einen Aufruf zur Dekolonialisierung der EU-Außenpolitik, mit Fokus auf den Erlass von Schulden und die Nutzung von Sonderziehungsrechten des Internationalen Währungsfonds für Investitionen in die sozial-ökologische Transformation in Partnerländern. Die Liberalen fordern, dass Entwicklungspolitik Demokratie, Jobs und Eindämmung des Klimawandels fördert. Die Europäische Volkspartei erwähnt die Entwicklungspolitik nur ein einziges Mal und schlägt vor, dass „neue Handelsvereinbarungen, Entwicklungshilfe und Visapolitik von der Kooperation von Drittstaaten im Bereich der Migration abhängen sollten, insbesondere hinsichtlich der Rückführung und Rücknahme eigener Staatsangehöriger“.

Tatsächlich vertreten die meisten Fraktionen starke Positionen zur Migration. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: Zum einen, ob die EU die Zusammenarbeit mit autokratischen Regimen in direkter Nachbarschaft im Rahmen sogenannter „Migrationspakte“ (z. B. mit Ägypten und Tunesien) fortsetzen sollte. Zum anderen, ob Entwicklungszusammenarbeit an Bedingungen hinsichtlich der Rücknahme von Migrant*innen und Geflüchteten geknüpft werden sollte. Die Grünen und die Linke lehnen es ab, Entwicklungszusammenarbeit von Migrationsabkommen und der Rücknahme von Migrant*innen und Geflüchteten abhängig zu machen. Die enge Verknüpfung von Migration und Entwicklungspolitik ist zum Teil auch eine Folge des sogenannten „Ansteckungsmechanismus” (Contagion Mechanism), wonach die großen Parteien Themen und mitunter auch Haltungen rechtspopulistischer Parteien übernehmen, wenn sie sich davon erhoffen, Wähler*innen zurückzugewinnen.

Interessanterweise werden Global Gateway und Team Europa in keinem der Wahlprogramme der Fraktionen erwähnt. Dies ist bedeutsam, da diese Initiativen grundlegende Fragen der EU-Entwicklungspolitik berühren: Wie können Europäer*innen besser zusammenarbeiten, um sichtbarer und effektiver zu werden? Und wie sollte sich die EU in einer geopolitisch aufgeheizten Weltlage positionieren?

Die aktuelle Kommission nimmt zu diesen Grundsatzfragen eine klare – und mittlerweile wohlbekannte – Haltung ein, wie ein kürzlich von Politico geleaktes Dokument offenbart. Das Dokument beschreibt einen scharfen globalen Wettbewerb, in dem die EU sich auf Handel, Investitionen und makroökonomische Unterstützung konzentrieren sollte. Die Kommission bezeichnet Entwicklungsländer als "aufstrebende Märkte" und fordert, dass die EU sich in der Kooperation mit diesen Ländern auf die eigenen wirtschaftlichen Interessen der EU konzentrieren sollte, um „Lieferketten zu diversifizieren und den Zugang zu Energie und Rohstoffen zu sichern“. In der darauffolgenden öffentlichen Debatte positionierten sich NGOs entschieden gegen einen solchen Ansatz und erinnerten die EU an ihre rechtliche Verpflichtung, die Armutsbekämpfung in Partnerländern zum Hauptziel ihrer Entwicklungspolitik zu machen.

Die demokratischen und dem europäischen Gedanken verpflichteten Fraktionen sollten ihre Positionen zur künftigen EU-Entwicklungspolitik deutlicher kommunizieren. Gemeinsam sollten sie ein umfassenderes, nachhaltigkeitsorientiertes Narrativ entwickeln, das die Eigeninteressen der EU mit denen der Partnerländer in Einklang bringt, um zusammen globale nachhaltige Entwicklung zu fördern. Im Kern geht es auch darum, eine Positionierung der EU zu vermeiden, die als neokolonial wahrgenommen wird. Tun die Fraktionen das nicht, spielen sie den rechtspopulistischen Parteien in die Hände, die wahrscheinlich versuchen werden, die Entwicklungspolitik auf die Eindämmung von Migration und die Förderung europäischer Wirtschaftsinteressen zu reduzieren.

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