Die aktuelle Kolumne
Die Post-2015-Entwicklungsagenda: der Beitrag der Europäischen Union jenseits von Entwicklungshilfe
Furness, Mark / Stephan KlingebielDie aktuelle Kolumne (2012)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 24.09.2012)
Bonn, 24.09.2012. Oft wird die Europäische Union (EU) als der weltgrößte Geber bezeichnet, der verantwortlich sei für ca. 60 % der gesamten Entwicklungszusammenarbeit (EZ), also der Mittel, die die wohlhabenden Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für entwicklungspolitische Zwecke aufwenden. Diese Aussage ist mit einer gewissen Skepsis zu betrachten, denn das bloße Addieren der verschiedenen europäischen EZ-Programme, die vielfach bilateralen Interessen dienen, führt zu einer verkürzten Sichtweise. Die „europäische Entwicklungszusammenarbeit“‘ ist derart fragmentiert, dass es eher verwirrt und nicht weiterhilft, die EU und ihre Mitgliedsstaaten als Einheit zu behandeln.
Schaut man auf die Debatte, wie die EU am besten zu einer neuen globalen Entwicklungsagenda für die Zeit nach dem Jahr 2015, in dem die Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele (MDG) angestrebt wird, beitragen könnte, kommt man zu dem Schluss, dass die Entwicklungszusammenarbeit kein optimaler Ausgangspunkt für inhaltliche Debatten ist. Das hat drei Gründe: Erstens werden die meisten europäischen Geber ihre u. a. 2002 in Monterrey abgegebene Zusage nicht einhalten, 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens als EZ bereitzustellen. Die europäische EZ kann auch aus diesem Grund keine wesentliche Säule für Entwicklung im 21. Jahrhundert sein.
Zweitens wird ein neuer globaler Konsens für „Post-2015“ – sofern er überhaupt erreicht wird – wahrscheinlich nicht mehr in der bisherigen Form EZ und Armut behandeln. Wenn der künftige Zielkatalog weiter gefasst sein wird und zusätzliche internationale Kooperationsanstrengungen etwa bei Umwelt-Governance verlangt, werden Konflikte inhaltlicher Art zu anderen Zielen (etwa der Armutsbekämpfung) entstehen. Hierüber wird noch zu beraten sein. In jedem Fall muss ein neuer Konsens „globale öffentliche Politiken“ (global public policies) für die Bereitstellung „globaler öffentlicher Güter“(global public goods) wie ökologische Nachhaltigkeit und Ernährungssicherheit formulieren, die gleichzeitig die Negativfolgen sogenannter „globaler Kollektivübel“ (global public bads) wie Gewaltkonflikte und Klimawandel eindämmen.
Drittens hat die EU Möglichkeiten, über einen eng begrenzten Entwicklungshilfeansatz hinausgehend durch das Eintreten für globale öffentliche Politiken deutlich mehr als in der Vergangenheit zu erreichen und die begrenzte Leistungsfähigkeit der EU bei der Bereitstellung von EZ und der Koordinierung von Entwicklungsprogrammen dadurch sogar mehr als auszugleichen. Ein globales MDG-Folgeabkommen wird vor allem mit den genannten Zielkonflikten zwischen sozioökonomischen Zielen und Nachhaltigkeitszielen umgehen und sich mit entsprechenden Kompromissen befassen müssen. Unabhängig von dem künftigen genauen Post-2015-Rahmen: Die EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Institutionen können durch ein gemeinsames Vorgehen einen entscheidenden Beitrag leisten, hierfür Lösungen zu entwickeln.
Alte Hausaufgaben erledigen
Im Mittelpunkt der derzeitigen MDG-Agenda steht Armutsminderung. Auch jedes neue globale Abkommen wird dem Ziel hohe Priorität einräumen; allerdings ändert sich der Blickwinkel. Die Weltbank schätzt, dass es zwischen 2005 und 2010 <link record:tx_ttnews:tt_news:4606 internal-link>einer halben Milliarde Menschen gelang, die Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar pro Tag zu überschreiten. Gleichzeitig sind sozioökonomische Herausforderungen wie zunehmende Ungleichheit und andere Formen der Marginalisierung zunehmend wichtige Phänomene. Auch der „Aufstieg“ einiger Staaten in die Gruppe der Länder <link record:tx_ttnews:tt_news:4588 internal-link>mit mittlerem Einkommen zeigt, dass die Zahl der armen Länder mit hoher Abhängigkeit von Entwicklungszusammenarbeit abnimmt.
Vor diesem Hintergrund sind zwei Aspekte des derzeitigen EU-Konzepts näher zu betrachten. Zum einen lässt sich die Wirkung europäischer EZ noch erhöhen. Die Anwendung der EZ-Wirksamkeitsagenda (aid effectiveness) auf Politiken, Programme und Instrumente der EU ist in vielen Bereichen noch Theorie. Zu den wichtigsten Schritten gehört es, die Koordinierung voranzubringen: eine „bessere Arbeitsteilung“ der europäischen EZ-Akteure wurde bereits vor Jahren vereinbart, die „gemeinsame Programmierung“ steht ebenfalls im Pflichtenheft. Den EU-Mitgliedstaaten und der Kommission ist daher anzuraten, ihre Zusagen einzuhalten, die sie in Paris, Accra und Busan im Rahmen der Vereinbarungen zur Wirksamkeit der EZ sowie 2005 mit dem Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik abgegeben haben.
Zum anderen bleibt „Politikkohärenz im Interesse der Entwicklung“ (Policy Coherence for Development / PCD) von zentraler Bedeutung. PCD besagt, dass andere politische Maßnahmen, etwa sicherheits- oder handelspolitische Initiativen, den entwicklungspolitischen Zielen von EZ-Programmen zumindest nicht zuwiderlaufen (do no harm) bzw. Entwicklungsfortschritte idealerweise sogar befördern sollen. Praktische Wirkungen zeigt das PCD-Konzept bislang kaum, selbst dort nicht, wo negative Folgen für Entwicklung unübersehbar sind. Die EU hat schon seit Jahren Mühe, nationale Interessen, vor allem in der Agrar- und Fischereipolitik, mit den Belangen armer Menschen in Entwicklungsländern in Einklang zu bringen.
Dennoch – klassische Entwicklungszusammenarbeit kann nur Teil einer neuen globalen Entwicklungsagenda sein. Auch der Schwerpunkt der PCD-Agenda muss verlagert werden: weg vom do-no-harm-Prinzip hin zu einem ganzheitlicheren Konzept, in dem Handel, Sicherheit und andere Themen als globale öffentliche Politiken, die einen aktiven Beitrag zu globalen Entwicklungszielen leisten, neu ausgerichtet werden.
Neue Hausaufgaben bearbeiten: entwicklungsfreundliche internationale Regime
Globale öffentliche Politiken basieren auf einem Netz internationaler Regime, die die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter und die Eindämmung der global public bads fördern. Idealtypisch bieten internationale Regime Politikbereichen, zum Beispiel dem Handel oder globalen Finanzströmen, Regeln, Standards und Strukturen. Die Auswirkungen der Instabilität bei den globalen Finanzen und ihre Folgen für Entwicklungsländer machen beispielhaft zwei Dinge deutlich. Erstens: Das politische Geschehen in der OECD-Welt ist außerordentlich wichtig für Entwicklungsfortschritte weltweit: gleichermaßen für Entwicklungsländer, Schwellenländer und die industrialisierte Welt. Zweitens: Auch wenn nationale Politiken ein wesentlicher Schlüssel für Reformen und Fortschritte sind, müssen globale Maßnahmen nationale Anstrengungen ergänzen. Hierfür sind funktionsfähige internationale Regime, die in vielfältiger Weise miteinander verflochten sind, erforderlich.
Die Bilanz internationaler Verhandlungen über Handel (die stockende Doha-Runde), Klimawandel und Entwicklung (<link record:tx_ttnews:tt_news:4599 internal-link>das zahnlose Rio+20-Abkommen) lässt keine Zuversicht aufkommen, dass globale Fortschritte leicht zu erreichen sind. Besonders die Art politischer Übereinkünfte („grand bargain“), die für eine Agenda globaler öffentlicher Politiken mit messbaren Zielen und eindeutigen Zusagen nötig ist, stellt eine immense Herausforderung dar.
Die Gestaltung und Einführung internationaler Regime ist natürlich keineswegs nur Aufgabe der EU. Allerdings: Die europäischen Akteure können und sollen sich spürbar einbringen und etwas bewirken. Globale öffentliche Politiken einzufordern, ist enorm kompliziert. Die EU kann aber einen Anstoß geben zu einer wichtigen Debatte zugunsten einer entwicklungsfreundlichen Prüfung bestehender oder des Aufbaus noch nicht bestehender internationaler Regime.
Die Dramen der Euro-Krise haben die europäische Politik in eine Art Schockstarre versetzt – ambitionierte Kooperationsagenden wie „globale öffentliche Politiken“ kommen erst gar nicht ins Blickfeld. Dennoch müssen die Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen ihrer globalen Verantwortung auch in turbulenten Zeiten gerecht werden. Die anstehenden internationalen Debatten über die Entwicklungsagenda für die Zeit nach 2015 bietet Europa eine ideale Gelegenheit, dies zu tun.
Lesen Sie auch „Die aktuelle Kolumne“ vom 10.09.2012 über „<link record:tx_ttnews:tt_news:4593 internal-link>Die Post-2015 Entwicklungsagenda: Erster Spatenstich für eine neue globale Entwicklungsagenda“ von Heiner Janus und Dr. Stephan Klingebiel.