Die aktuelle Kolumne
Die Neuerfindung der Entwicklungspolitik: Wir brauchen ein Ministerium für Globale Entwicklung
Faust, Jörg / Dirk MessnerDie aktuelle Kolumne (2013)
Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 10.10.2013)
Bonn, 10.10.2013. Außenpolitik und Entwicklungspolitik wachsen stärker zusammen, weil Fragen globaler Entwicklung immer mehr zu zentralen außenpolitischen Herausforderungen werden. Lange bestand Entwicklungspolitik in der Zusammenarbeit mit Ländern, die am Rand der Weltwirtschaft und -politik standen und für die sich in der Bundesregierung nur das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) interessierte. In der alten Entwicklungspolitik ging es primär um Armutsbekämpfung, humanitäre Hilfe, Unterstützung kränkelnder Ökonomien. Aus außenpolitischer Sicht und damit durch die Brille außenwirtschaftlicher und geopolitischer Interessen, waren die meisten dieser "Partnerländer" schlichtweg uninteressant. Doch diese alten Grenzziehungen zwischen Entwicklungs- und Außenpolitik lösen sich heute auf.
Erstens hat sich – eine gute Nachricht - die Zahl der ärmsten Länder der Welt in den vergangen 15 Jahren auf etwa 35 halbiert; dies sind jene Staaten in denen die Menschen meist durch Bürgerkriege, Gewalt und hochgradig korrupte Strukturen ihrer Existenzgrundlage beraubt werden: Armut und Unsicherheit gehen hier eine unheilvolle Symbiose ein. Zwar leben in diesen Staaten „nur“ noch ein Drittel der weltweit ärmsten Menschen; etwa 350 Millionen. Doch sind diese Länder mittlerweile auch von hoher Relevanz für die Außenpolitik, denn oft sind scheiternde Gesellschaften Ausgangspunkt für regionale Krisen und Kriege und globale Bedrohungen.
Zweitens leben zwei Drittel der Armen nun in der wachsenden Gruppe wirtschaftlich dynamischer Länder, die deshalb zunehmend eigene Mittel in ihre Entwicklung investieren können. Traditionelle Entwicklungspolitik wird für Indien, Brasilien oder Vietnam daher immer unwichtiger. Zugleich sind viele dieser Schwellenländer aber wichtige Akteure für unsere Außen-, Sicherheits-, Klima- und Außenwirtschaftspolitiken und sie sind Mitglieder in der G 20. Die Weltordnung verändert sich rapide.
Drittens hat das Geschäftsmodell der alten Entwicklungspolitik in den „Partnerländern“ einen radikalen Legitimationsverlust erlitten. Selbst wenn Entwicklungspolitik gut gemeint ist und gut gemacht wird, begünstigt sie langfristig dennoch Paternalismus und die latente Arroganz der Helfer, Experten und Finanziers. Weder Staaten noch Menschen sehen sich gern über Jahrzehnte in der Rolle von Bittstellern und „Nehmern“. Das akzeptieren sie umso weniger, wenn sie längst selbst zu Gebern geworden sind. Indien und China finanzieren Hilfsprojekte, während die OECD-Welt sich in der schwersten Krise seit den 1930er Jahren befindet. Die Euroländer kämpfen gegen Verschuldungskrisen, während Schwellenländer hohe Devisenreserven aufhäufen.
Entwicklungspolitik steht mithin an einem Scheideweg und die skizzierten Dynamiken könnten die Schlussfolgerung nahe legen, das Politikfeld zu „schrumpfen“. Entwicklungspolitik könnte sich auf die 25-35 ärmsten Länder der Welt konzentrieren, die strukturell noch auf Hilfe von Außen angewiesen sind. Das BMZ könnte dann sukzessive verkleinert oder ins Auswärtige Amt integriert werden, um Armutsbekämpfung, die Stabilisierung schwacher Staaten und die Sicherheitspolitik in den schwierigsten Entwicklungsländern zusammenzuführen. Aus dynamischen Entwicklungs- und Schwellenländern würde sich Entwicklungspolitik dann zurückziehen.
Doch an diesem Punkt kommt der vierte Trend ins Spiel: Während die Zahl extrem armer Länder sinkt, gewinnen Fragen globaler Entwicklung, die über die weltweite Armutsbekämpfung hinausgehen, immer stärker an Bedeutung. Im 21. Jahrhundert wird der Schutz globaler Gemeinschaftsgüter zu einem Schlüsselthema internationaler Politik. Das gilt für den klimaverträglichen Umbau der internationalen Energiesysteme, den Schutz der Weltmeere, der Biodiversität und anderer Elemente des Erdsystems, die Stabilisierung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen, internationale Wissenschafts- und Technologiekooperationen sowie originär politische Themen wie Demokratisierung und Stabilisierung schwacher Staaten – z. B. im arabischen Raum. Diese Herausforderungen folgen nicht dem alten Geber-Nehmer-Muster. Beim Schutz globaler Güter, auf die alle Staaten in einer eng zusammen gewachsenen Weltgemeinschaft angewiesen sind, stehen gemeinsame Interessen und wechselseitige Verantwortlichkeiten im Zentrum, nicht überholte Nord-Süd-Paternalismen. Doch gibt es in diesen zentralen Feldern internationaler Zusammenarbeit deutlich mehr Blockaden als Fortschritte. Es wiegt schwer, dass es in unserer Ministerienlandschaft an starken Akteuren fehlt, die sich um diese Zukunftsagenda aus der Perspektive deutscher, europäischer und zugleich globaler Perspektive kümmerten.
Die nächste Bundesregierung sollte deshalb ein "Ministerium für globale Entwicklung" schaffen, das sich auf die drängendsten globalen Entwicklungsherausforderungen konzentriert. Dabei geht es nicht länger nur um Entwicklungsprobleme in Entwicklungsländern, sondern vor allem um die Stärkung wechselseitiger Verantwortung und eine explizite Ausrichtung an gemeinsamen Interessen. Eine solche Stoßrichtung würde auch helfen, überkommene Pathologien der alten „Geber- und Nehmerwelt“ aufzubrechen und die Beziehungen zwischen Deutschland und den Schwellen- und Entwicklungsländern den realen Gegebenheiten anzupassen. Die Entwicklungs- und Schwellenländer müssten in einem solchen Kontext ihre Beiträge zu globaler Entwicklung sichtbar machen, anstatt die Verantwortung für die globalen Fragen einseitig auf die OECD-Länder abzuschieben.
Aber auch Deutschland und andere OECD-Länder müssten Zugeständnisse machen. Während Entwicklungspolitik ganz selbstverständlich als Instrument zur Mitgestaltung der nationalen Politiken, z. B. der Energiepolitiken Indiens oder Chinas, verstanden wird, sträuben sich die Industrieländer, ihre eigenen Entwicklungsstrategien von den Entwicklungs- und Schwellenländer auf die Probe stellen zu lassen. „Gemeinsame Interessen“ zur Sicherung der globalen Gemeinschaftsgüter hieße aber z. B., dass Abkommen und Unterstützungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in China oder Vietnam an entsprechende Treibhausgaseffizienzziele in Deutschland geknüpft würden. Es wäre eine politische Innovation in der internationalen Kooperation, wenn von den OECD-Ländern unterstützte und gewollte Politikreformen in den Entwicklungs- und Schwellenländern mit parallelen Politikreformen in ihren eigenen Ländern verknüpft würden. So wäre etwa der Verweis auf die Bedeutung transparenter wirtschaftspolitischer Prozesse und hierfür notwendiger Reformen glaubwürdiger, wenn er sich auch auf die defizitären Entwicklungen in Europa beziehen würde. In der Klimapolitik könnten indische Mittelschichten und Entscheidungsträger hohe Energieeffizienzstandards – an denen die Bundesregierung interessiert ist – eher akzeptieren, wenn Deutschland im Gegenzug nicht weiter ambitionierte Energieeffizienzziele der EU blockierte. Ein solches Eingeständnis wechselseitiger Verantwortung ist die Grundlage für neue Politikpakete und würde die Einbahnstraßenlogik der alten Entwicklungspolitik aufbrechen.
Ein Ministerium für globale Entwicklung wäre also nicht einfach nur ein vergrößertes BMZ. Es käme vielmehr einer Neugründung gleich, die darauf ausgerichtet wäre, eine neue globale Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Interessen zu schaffen, die den Anforderungen zur nachhaltigen Nutzung unserer globalen Gemeinschaftsgüter und den veränderten Kräfteverhältnissen in der Weltwirtschaft gerecht wird. Gegenüber dem Vorschlag, die internationale Armutsbekämpfung in das Auswärtige Amt einzugliedern und die anderen globalen Entwicklungsfragen den jeweiligen Sektorministerien zu überlassen, hat unsere Sichtweise zwei Vorteile. Erstens hätte die Armutsbekämpfung in einem starken Ministerium für globale Entwicklung weiterhin und zu Recht eine hohe Bedeutung, während sie im Auswärtigen Amt viel direkter mit vielen anderen, gewichtigen Interessen konkurrieren müsste und deshalb an Gewicht verlieren könnte. Zweitens begünstigt die existierende Zersplitterung der Zuständigkeiten für zentrale globale Entwicklungsfragen auf viele Ressorts, dass diesen Themen im Kabinett insgesamt zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Die Stärkung der globalpolitischen Kompetenzen der Sektorressorts könnte nur in einem langwierigen Lernprozess gelingen. Die Gründung eines Ministeriums für globale Entwicklung, das sich auf die zentralen Weltprobleme konzentrierte, wäre daher ein kürzerer und kostengünstiger Pfad.