Die aktuelle Kolumne

Die liberale Demokratie als universeller Wertekanon – Zurück in die Zukunft?

Faust, Jörg
Die aktuelle Kolumne (2013)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 14.01.2013)

Bonn, 14.01.2013. Der Kerngedanke der Demokratie begreift das Volk als einzig legitimen Träger der Staatsgewalt. In der liberalen Demokratie findet dieser Kerngedanke seinen Ausdruck darin, dass inklusive politische Partizipationsrechte aller Bürgerinnen und Bürger einen freien Wettbewerb um Legislative bzw. Exekutive ermöglichen, so dass die Regierenden an die Präferenzen umfassender Mehrheiten gebunden werden. Freie und faire Wahlen, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Presse- und Informationsfreiheit sowie der Schutz fundamentaler Rechte sind institutionelle Prinzipien, die demokratische Systeme heute charakterisieren und die sich vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges als universeller Werteamalgam legitimer Herrschaft durchzusetzen schienen.

Diese Universalität wird zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer jedoch zunehmend kritisch hinterfragt. Vielmehr sei die "Reisefähigkeit" westlicher Demokratievorstellungen in andere kulturelle Kontexte stark begrenzt. Das Entstehen der liberalen Demokratie sei ein Produkt spezifisch westlicher Erfahrungen, weshalb die Einbettung liberaldemokratischer Wertvorstellungen in andere kulturelle Kontexte nur sehr begrenzt möglich sei. Die genannten demokratischen Prinzipien seien daher keineswegs als universeller Wertekanon geeignet, sondern in ihrer Reichweite durch kulturelle oder kulturell-religiöse Grenzen beschränkt. Da etwa tief imprägnierte asiatische oder afrikanische Vorstellungen und Praktiken politischer Kultur mit liberaldemokratischen Vorstellungen allenfalls in geringem Maße vereinbar seien, müssten auch westliche Maßnahmen zur Förderung liberaler Demokratie als wenig legitime und wenig fruchtbare Eingriffe betrachtet werden. Gestärkt wird diese Argumentation auch durch die gegenwärtigen globalen Verschiebungen – dem Aufstieg großer Entwicklungs- und Schwellenländer sowie den manifesten ökonomischen Problemen in Europa und den USA.

Doch bei genauerer Betrachtung spricht vieles für die Universalität liberaldemokratischer Werte und wenig für eine kulturrelativistische Skepsis.

Die Prinzipien liberaldemokratischer Herrschaft üben in allen Kulturkreisen nach wie vor eine enorme Strahlkraft aus. Und dies keineswegs nur, weil mit Demokratie westlicher Wohlstand und Konsum verbunden wird, sondern weil mit den institutionellen Prinzipien der liberalen Demokratie die nicht unberechtigte Hoffnung verbunden wird, dass sich staatliches Regieren nicht auf die Interessen weniger Mächtiger bezieht sondern an den Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten orientiert. Nicht nur die Ereignisse des arabischen Frühlings deuten daraufhin, als große Bevölkerungsteile für mehr politische Teilhabe und Demokratie eingetreten sind und zumindest die Muslime der urbanen Mittelschichten haben kaum Interesse an autoritären Regimen islamistischer Prägung. Nicht anders ist es auch Südkorea, Taiwan, Indonesien, Ghana oder Südafrika, wo die genannten institutionellen Prinzipien der Demokratie etabliert wurden und von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Umgekehrt investieren autoritäre Regierungen in allen Kulturkreisen sehr viel in Zensur und Repression, um eine offene Diskussion um die Legitimität unterschiedlicher Herrschaftsformen zu verhindern.

Dies bedeutet wohlgemerkt nicht, dass sich die Institutionen der liberalen Demokratie überall konfliktfrei und rasch etablieren werden. Zu stark sind für eine solch optimistische Prognose vielerorts die Beharrungskräfte politischer und ökonomischer Eliten, die von illiberalen und autokratischen Strukturen prächtig profitieren. Doch dass die Attraktivität liberaldemokratischer Prinzipien an kulturelle Großräume gebunden ist, lässt sich durch die Erfahrungen der letzten Dekaden schlichtweg nicht belegen. Vielmehr wäre es ein geradezu zynisches Unterfangen, den indischen Demonstranten zu erklären, dass grundlegende Rechte von Mädchen und Frauen zwar durch den Staat garantiert werden müssen, aber gleichzeitig darauf zu verweisen, dass Versammlungsfreiheit und Forderungen nach stärkerer Rechenschaftspflicht von Parlament und Regierung ein gleichsam kulturell nicht legitimes Mittel hierfür seien. Auch chinesischen Bloggern wie Michael Anti müsste entgegnet werden, dass er Unrecht damit habe, Demokratie als „universellen Wert“ zu bezeichnen. Ebenso müsste man zivilgesellschaftlichen Akteuren in den Ländern Afrikas entgegenhalten, dass ihre Forderungen nach demokratisch legitimierter Rechtsstaatlichkeit ein kulturell uninformiertes Anspruchsdenken sei.

Der Vorwurf kulturrelativistischer Skeptiker, die Vorstellung von liberaler Demokratie als universellem Wertekanon sei fester Bestandteil eines westlichen Werteimperialismus, lässt sich vielfach sogar einfach umkehren. Denn mit welcher Legitimation treten westliche Kulturrelativisten eigentlich an, wenn sie Gesellschaften anderer Regionen die kulturelle Tauglichkeit für demokratische Herrschaft absprechen? Der Bezug auf intellektuelle Gegner liberaldemokratischer Prinzipien in den Ländern des Südens taugt jedenfalls wenig, erweist sich diese Gegnerschaft doch bei genauerer Betrachtung oftmals als der Zensur unterworfen oder gar als Begünstigte autoritärer Strukturen.

Der Kern der kulturrelativistischen Argumentation wider die Reisefähigkeit liberaler Demokratie ist somit weder empirisch haltbar noch normativ nachvollziehbar. Mit Vorsicht ist aber auch allzu optimistischen Prognosen zu begegnen, die einen unabänderlichen Siegeszug liberaler Demokratie ankündigen. Doch die Barrieren gegen mehr Demokratie sind weniger in der universellen Attraktivität liberaler Demokratie begründet, sondern darin, dass inklusive politische Partizipations- und Freiheitsrechte eine Bedrohung für die politischen und wirtschaftlichen Profiteure autoritärer Strukturen darstellen.

Schließlich bedeutet die Akzeptanz der Universalität liberaler Demokratievorstellungen nicht, keine Kritik an den Praktiken und Gebaren westlicher Demokratieförderung üben zu dürfen. Diplomatische Doppelzüngigkeit und eine oftmals oberlehrerhaft wirkende Selbstgefälligkeit westlicher Demokratieförderer sind wenig geeignet, in einem sich wandelnden internationalen System für die Akzeptanz der Demokratie als universellem Wert zu werben.

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