Die aktuelle Kolumne
Wirtschaftspotenziale von Geflüchteten, Netzwerkökonomie und Verfügungsrechte
Die Fluchtfrage nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten betrachten
Abedtalas, MusallamDie aktuelle Kolumne (2024)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 15.04.2024
Bonn, 15. April 2024. Mit sich häufenden Kriegen und Naturkatastrophen steigt die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. Zugleich verlängert sich ihre Aufenthaltsdauer in den Aufnahmeländern. Immer weniger Länder sind deshalb bereit, sie aufzunehmen, und rechte Parteien erfahren Aufwind. Insbesondere Aufnahmeländer, die einen demografischen Wandel erleben, wie etwa Deutschland, sind jedoch auf Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale von sowohl gering-qualifizierten als auch (hoch-)qualifizierten Geflüchteten angewiesen. Um die Akzeptanz von Geflüchteten zu erhöhen, braucht es einen Ansatz, der wirtschaftlich sinnvoller und politisch akzeptabel ist.
Dass die aktuellen Ansätze nicht erfolgreich sind, hat zwei wesentliche Gründe. Zum einen wird die Fluchtfrage als externes Problem betrachtet, das mit der Ankunft der Geflüchteten entsteht und in erster Linie im Rahmen internationaler Politik gelöst werden soll. Lokale politische Maßnahmen, zum Beispiel zu Integration von Geflüchteten im Arbeitsmarkt, dienen lediglich als Ergänzung. Diese Herangehensweise führt dazu, dass die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale der Geflüchteten nicht effektiv eingesetzt werden und der potenzielle Nutzen für das Aufnahmeland und die Geflüchteten selbst sinkt. Zum anderen werden Menschen auf der Flucht traditionell im Kontext humanitärer Hilfe betrachtet. Sie gelten als Menschen in Not, denen aus moralischen Gründen geholfen werden sollte. Dafür werden ohnehin schon begrenzte lokale Ressourcen umverteilt, worauf die Öffentlichkeit mit Unmut reagiert und Geflüchtete als Konkurrent*innen betrachtet. Dies schafft auch innerhalb der Institutionen, die für die Einbindung der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt und damit das Ausschöpfen ihrer Potentiale zuständig sind, ein negatives Umfeld.
Trotz der jüngsten Forderungen nach einem Ansatz, der die Interessen der lokalen Bevölkerung beim Ausschöpfen der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale der Geflüchteten einbezieht, liegt der Schwerpunkt weiter auf humanitären Programmen. Beim Bund-Länder-Gespräch zur Flüchtlingspolitik Anfang März 2023 etwa hieß es bezüglich des Ausschöpfens von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenzialen der Geflüchteten: „Nur durch Humanität und Ordnung, begleitet von einer Steuerung und Begrenzung der irregulären Migration, kann die Unterbringung und Integration der Geflüchteten gelingen.“ Auch der Weltentwicklungsbericht der Weltbank aus dem Jahr 2023 erwähnt die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale, die Geflüchtete mitbringen, doch im Vordergrund stehen weiterhin die internationalen Beziehungen und entsprechende Maßnahmen.
Wie können Anreize für Menschen und Institutionen geschaffen werden, Geflüchteten mit größerer Offenheit zu begegnen und ihnen einen besseren Zugang zu wirtschaftlichen Möglichkeiten zu geben? Ein möglicher Schritt in diese Richtung kann sein, aus dem Blickwinkel der Netzwerkökonomie und der Theorie der Verfügungsrechte den Fokus auf die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale der Geflüchteten zu richten. Die Netzwerkökonomie kann dazu beitragen, die Bedenken der lokalen Bevölkerung im Hinblick auf den Wettbewerb um begrenzte lokale Ressourcen zu zerstreuen. Verfügungs- bzw. Eigentumsrechte können als Werkzeug dienen, die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale der geflüchteten Menschen so einzusetzen, dass sie sowohl den Geflüchteten selbst als auch der lokalen Bevölkerung zugutekommen.
Bei der Netzwerkökonomie (auch bekannt als externe Effekte) wird der Wert oder Nutzen, den Menschen aus einer Ware oder Dienstleistung ziehen, davon bestimmt, wie viele Menschen ähnliche Waren oder Dienstleistungen nutzen. Hat ein Telefonnetz beispielsweise viele Nutzer*innen, können auch viele Personen kontaktiert werden und das Netz gewinnt an Attraktivität. Da die Möglichkeit besteht, dass das Netz überlastet wird, wird der Dienstanbieter gezwungen, mehr Geld in die Verbesserung der Infrastruktur und der Technologie des Netzes zu investieren. Dementsprechend ist zu erwarten, dass die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspotenziale der Geflüchteten die wirtschaftlichen Möglichkeiten und das Einkommensniveau der lokalen Bevölkerung verbessern, wenn sie in wirtschaftliche Aktivitäten eingebunden sind und Zugang zu lokalen Ressourcen haben. Notwendige Schritte dazu sind die Ausweitung des Marktes und eine Änderung der bestehenden Arbeitsteilung. Der wichtigste Hebel ist ein verbessertes Verfahren zur Anerkennung der Eigentums- bzw. Verfügungsrechte der Geflüchteten an den von ihnen mitgebrachten personellen, finanziellen oder sozialen Ressourcen.
Die Theorie der Verfügungsrechte besagt, dass in Markttransaktionen nicht die Ressourcen oder Vermögenswerte selbst gehandelt werden, sondern die Verfügungsrechte an diesen. Im weitesten Sinne legen Verfügungsrechte fest, welche Ressourcen wem gehören und wie sie genutzt werden können. Wenn die Gesellschaft beispielsweise die Verfügung über einen Vermögenswert (oder eine Ressource) nicht anerkennt, kann der bzw. die Eigentümer*in diese nicht auf dem Markt verkaufen. Dies führt dazu, dass diese Ressource von wirtschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen ist oder ihr Wert unterschätzt wird und der bzw. die betreffende Eigentümer*in der Gesellschaft marginalisiert wird. Folglich müssen die Ressourcen Geflüchteter in der sozialen Ordnung des Aufnahmelandes anerkannt und entsprechende Verfügungsrechte ausgestellt werden. Dieser Prozess umfasst die verschiedensten Bereiche, wie z. B. Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitserlaubnisse, Anerkennung von Qualifikationen und Bildungsabschlüssen, Konfliktlösung, Geschäftsgenehmigungen. Nur so erhalten sie Zugang zum lokalen Wirtschaftsgefüge und können an wirtschaftlichen Aktivitäten teilhaben.
Dieser Ansatz schmälert keinesfalls die Bedeutung von humanitären Aufnahmeprogrammen, insbesondere in den frühen Phasen der Aufnahme und Rehabilitation, sondern ergänzt sie vielmehr durch nachhaltigere Lösungsansätze.