Die aktuelle Kolumne

Der zerfranste Staat

Christian von Haldenwang
Die aktuelle Kolumne (2014)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 14.07.2014)

Bonn, 14.07.2014. Die Debatte um die <link https: www.die-gdi.de forschung die-post-2015-agenda external-link-new-window externen link in neuem>Post-2015-Agenda, d. h. die Ziele globaler Entwicklung nach 2015, nimmt vor allem die Staaten in die Pflicht – übrigens auch die Staaten des globalen Nordens. Das ist einerseits verständlich: Schließlich erbringt der Nationalstaat nach wie vor wichtige Leistungen. Außerdem: Wenn es zuletzt Fortschritte bei globalen Herausforderungen – etwa der Bekämpfung von Steuerflucht – gab, dann beruhten diese vor allem auf der Initiative einzelner Staaten oder kleiner Staatengruppen. Die multilateralen Regime erweisen sich hingegen als entscheidungs- und umsetzungsschwach.

Aber andererseits sind Nationalstaaten mit der Steuerung der notwendigen globalen Reformprozesse strukturell überfordert. Schon seit längerem franst der Staat nämlich aus – nach oben, nach unten und zur Seite.

  • Nach oben: Staaten geben immer mehr Entscheidungskompetenzen an internationale und zwischenstaatliche Einrichtungen ab. Ein Beispiel sind Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, wie die <link https: www.die-gdi.de forschung transatlantische-handels-und-investitionspartnerschaft external-link-new-window externen link in neuem>Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, die derzeit zwischen Europa und den USA verhandelt wird. Hier wird die Entscheidungsbefugnis in Konfliktfällen auf zwischenstaatliche Schiedsinstanzen übertragen.
  • Nach unten: Entwicklungsländer folgen den Ländern des globalen Nordens darin, immer mehr Befugnisse auf subnationale Gebietskörperschaften zu verlagern. Regieren in komplexen Mehrebenensystemen ist in den meisten Ländern mittlerweile Alltag.
  • Zur Seite: Nichtstaatliche Akteure (zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmen usw.) übernehmen Aufgaben, die vormals zum Kernbereich öffentlicher Verwaltung gehörten. Zum Beispiel übertragen vielerorts Kommunen zentrale Dienstleistungen (etwa Trinkwasserversorgung) auf privatwirtschaftliche Träger.


Das Ausfransen des Staates lässt sich nicht erst seit gestern beobachten. Es wird aber durch die enorme Verdichtung und Beschleunigung globaler Informations- und Kommunikationsströme zusätzlich angetrieben. Im Ergebnis sind Regierungen immer weniger in der Lage, gemeinwohlorientierte Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.

Hinzu kommt: Staaten, die vielleicht ein Sechstel oder weniger des Bruttonationaleinkommens in Form von Steuern und Abgaben abschöpfen, sehen sich mit Ansprüchen einer global informierten Bevölkerung konfrontiert, welche sich am Wohlfahrtsniveau der OECD-Länder orientiert. Es ist aber nicht möglich, öffentliche Güter wie in Schweden mit einem Steueraufkommen wie in Indonesien zu finanzieren.

Durch das Unvermögen der Nationalstaaten entsteht eine Kluft zwischen den Erfordernissen kollektiven Handelns und den institutionellen Strukturen, die ein solches Handeln möglich machen. Immer mehr Entscheidungen werden nicht von jenen getroffen, die sich dem Votum der Wählerinnen und Wähler stellen müssen. Die politische Ordnung der globalen Gesellschaft hat damit ein Kongruenzproblem: Die Nationalstaaten tragen immer noch die Hauptlast der Legitimierung. Sie sollen das Gemeinwohl definieren und durchsetzen. Über die Verteilung der Güter entscheiden national wie international jedoch zunehmend andere Akteure. Wir tun aber so, als würden beide Operationen – Legitimierung und Allokation – sich immer noch decken.

Moderne internationale Zusammenarbeit muss den Bedingungen staatlicher Zerfransung Rechnung tragen. Hierzu drei Punkte:

Erstens müssen die globalisierten Unternehmen und Privatvermögen stärker als bisher in die Pflicht genommen werden. Die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums ist ein zentraler Pfeiler unserer Verfassung. Will man diese Norm auch international zur Geltung bringen, lässt sich das nur durch eine effektive <link https: www.die-gdi.de analysen-und-stellungnahmen article post-2015-die-internationale-bekaempfung-von-steuerhinterziehung-und-vermeidung external-link-new-window externen link in neuem>Regulierung der globalen Finanzströme erreichen. Auch die systematische Verletzung elementarster Sozial- und Umweltstandards in vielen Wirtschaftssektoren lässt sich nur durch internationales Handeln unterbinden. Noch fehlt aber eine Perspektive auf die Post-2015-Ziele, welche die Beiträge der Wirtschaftsakteure zur Umsetzung explizit einbezieht.

Zweitens: Bürgerinnen und Bürger haben heute Möglichkeiten der politischen Mobilisierung und Artikulation, die noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar waren. Diese Ressource der Willensbildung wird viel zu wenig genutzt. Was auf der nationalen Ebene als Solidargemeinschaft zumindest teilweise noch erlebbar ist, wird auf globaler Ebene als karitatives Projekt missverstanden, wenn die Betroffenen keine politische Stimme haben. Der neue, <link http: www.wbgu.de hauptgutachten hg-2011-transformation external-link-new-window externen link in neuem>globale Gesellschaftsvertrag setzt daher neue, ebenfalls globale Strukturen politischer Kommunikation und Teilhabe voraus.

Drittens: „Koalitionen der Willigen“ sind wichtige Vehikel, um auf internationaler Ebene Veränderungen anzustoßen. Solche „Klub-Governance“-Strukturen müssen jedoch auf Dauer in multilaterale Strukturen überführt werden. Wir brauchen eine <link https: www.die-gdi.de forschung die-entwicklungspolitik-der-vereinten-nationen external-link-new-window externen link in neuem>Reform der Vereinten Nationen. Sie wird nicht einfach zu erreichen sein, aber wenn wir nur darauf hoffen, dass die Profiteure des aktuellen Zustands von sich aus zur Einsicht gelangen, kommt sie vermutlich nie.

Welche konkreten Ziele sich die globale Gesellschaft für die Zeit nach 2015 setzt, ist vor diesem Hintergrund zweitrangig. Entscheidend ist vielmehr, wer an der Zielformulierung beteiligt ist und welche Akteure in die Umsetzung eingebunden werden.

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