Die aktuelle Kolumne

Arktische Zusammenarbeit jenseits geopolitischer Interessen

Der Arktische Rat: vom Rovaniemi Spirit zum Tromsö Spirit?

Methi, Kirsti / Dorothea Wehrmann
Die aktuelle Kolumne (2023)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 30.05.2023

Bonn, 30. Mai 2023. Wenn der Arktische Rat die durch Russlands Krieg verursachte politische Krise überleben soll, muss er lokale Stimmen stärker einbeziehen und über mögliche Perspektiven der Beziehungen zu Russland nach dem Krieg diskutieren.

Der Arktische Rat ist das wichtigste hochrangige zwischenstaatliche Forum für die Zusammenarbeit in der Arktis. Aufgrund der russischen Invasion der Ukraine beschlossen sieben der acht Arktisstaaten (alle außer Russland), ihre Kooperation im Arktischen Rat während Russlands Vorsitz vorläufig zu pausieren. In diesem Monat hat Norwegen den Vorsitz des Arktischen Rates von Russland übernommen. Der norwegische Vorsitz könnte der wichtigste in der Geschichte des Arktischen Rates werden, der in seiner jetzigen Form – ohne den größten arktischen Staat, Russland –, keine Zukunft haben wird. Und sollte Schweden NATO-Mitglied werden, wäre Russland das einzige Nicht-NATO-Mitglied im Arktischen Rat. Die Region erfährt bereits jetzt eine zunehmende Militarisierung.

Um das aktuelle Bild der Arktis als militärischen Hotspot zu verändern und zu vermeiden, dass es in der Arktispolitik in Zukunft hauptsächlich um sicherheitspolitische Prioritäten geht, sind ein Umdenken und ein stärkerer politischer Wille zur Integration lokaler Perspektiven erforderlich. „Die Menschen im Norden“, insbesondere die Jugend, ist eine der vier Prioritäten Norwegens für die Zeit seines Vorsitzes in den nächsten zwei Jahren. Lokale Stimmen aus dem Norden drängen zunehmend auf ein Verständnis der Arktispolitik, das sich nicht nur auf zwischenstaatliche Beziehungen konzentriert, sondern auch die Vielfalt der Lebensbedingungen und Lebensgrundlagen in der gesamten Arktis in den Blick nimmt. Das Netzwerk Universität der Arktis, das Arctic Mayors' Forum, der Arktische Wirtschaftsrat und die langjährige grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen indigenen Völkern und anderen Gruppen sind Beispiele für den klaren Willen und das starke Engagement, das die Menschen im Norden teilen, um mittels Interaktion und gegenseitiger Unterstützung Lösungen für gemeinsame Herausforderungen zu finden. Entscheidungen zur arktischen „Peripherie“ werden jedoch oft in den weit entfernten Hauptstädten der arktischen Staaten getroffen. Die aktuellen geopolitischen Turbulenzen führen allerdings dazu, dass das Thema Sicherheitspolitik die Agenda der arktischen Staaten dominiert und die Arbeit des Arktischen Rates lahmlegt.

Auf dem Weg zum Geist von Tromsö?

Jetzt, wo die „Hauptstadt der Arktis“ während des norwegischen Vorsitzes im norwegischen Tromsö liegt und es dort eine beträchtliche Anzahl von Veranstaltungen des Arktischen Rates geben wird, besteht ein großes Potenzial, über die langjährige Zentrum-Peripherie-Dichotomie und die klassischen geopolitischen Perspektiven hinauszublicken und neue Narrative zu entwickeln. Der Arktische Rat sollte einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgen, der die Sorgen der Menschen und Gesellschaften im Norden berücksichtigt, etwa den demografischen Wandel, den Mangel an Infrastruktur und entsprechenden Dienstleistungen sowie die Anpassung der arktischen Lebensgrundlagen an den Klimawandel. Die internationale Hafenstadt mit Bürger*innen aus 139 Nationen, einer großen Gemeinde aus Russland und der Ukraine sowie norwegisch-russischen Familien beherbergt die Sekretariate des Arktischen Rates und des Arctic Mayors’ Forum, das Sekretariat für indigene Völker, den Arktischen Wirtschaftsrat, die Konferenz Arctic Frontiers und zahlreiche Forschungseinrichtungen, die sich mit dem Wissen um die Arktis beschäftigen. Nichtstaatliche Akteure auf beiden Seiten des Konflikts, die die Menschen und Gesellschaften in der Arktis repräsentieren, sollten ebenfalls einbezogen werden, wenn es um die verschiedenen möglichen Szenarien geht, wie die Zusammenarbeit mit Russland nach dem Ende des Krieges aussehen könnte. Da die globale Erwärmung in der Arktis fast viermal schneller ist als anderswo, ist die Begrenzung des Klimawandels nur eines von vielen Themen, die eine Zusammenarbeit erfordern, insbesondere in der Arktis.

Um das Vertrauen in die gegenwärtige arktische Zusammenarbeit unter der Schirmherrschaft des Arktischen Rates zu stärken, ist eine stärkere öffentliche Diskussion auf allen Governance-Ebenen in der Arktis von entscheidender Bedeutung. Der norwegische Vorsitz sollte Richtlinien, Strukturen und Plattformen einrichten, um einen Anreiz für einen fundierten langfristigen transnationalen Austausch zu schaffen. Dieser Austausch kann die Grundlagen für Politik und Entscheidungsfindung in den Mitgliedsstaaten des Arktischen Rates liefern und sollte die Perspektiven der Menschen im Norden zu kontroversen Themen im Arktischen Rat einbeziehen, einschließlich der künftigen Beziehungen zu Russland. Der Krieg in der Ukraine hat die geopolitischen Interessen in der Arktis deutlich in den Mittelpunkt gerückt, auch weil die Arktis zunehmend als neue Megaregion gilt, die die europäische Energiewende sichern soll. Bereits zuvor jedoch galten Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere entlang des russischen Teils des Nördlichen Seewegs, als Teil von Chinas Bestrebungen, seine Rolle im Arktischen Rat zu stärken, die polare Seidenstraße auszubauen und sich als globale Supermacht zu behaupten.

Es war der Rovaniemi Arctic Spirit, der 1996 zur Gründung des Arktischen Rates führte und der dessen Rolle begründete, die Zusammenarbeit auf zirkumpolarer Ebene zu unterstützen. Ein neuer arktischer Geist von Tromsö, der verschiedene lokale Perspektiven in die Werteordnung der arktischen Zusammenarbeit integriert, würde den heutigen Bestrebungen einer grünen Kolonisierung und den Machtspielen der Großmächte besser Einhalt gebieten. Dies wäre ein notwendiger Schritt, um dem Arktischen Rat demokratische Legitimität und Relevanz zu verleihen und den Völkern und lokalen Regierungsstrukturen in der arktischen Region den ihnen gebührenden Respekt zu zollen.


Dieser Text entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Nachhaltige städtische Entwicklung in der Europäischen Arktis (SUDEA): Verbesserung von transnationaler Kooperation in abgeschiedenen Regionen“ (Projektnummer 426674468), das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem polnischen Wissenschaftszentrum (NCN) (UMO-Vereinbarung - 2018/31/G/HS5/02448) gefördert wird.


Kirsti Methi ist Projektmanagerin des Projekts „Artic Capital“ der Stadtverwaltung von Tromsö. Sie hat einen BA in Sozialwissenschaften und einen MBA in strategischer Führung und Wirtschaft.

Dorothea Wehrmann ist Soziologin und  Projektleiterin des Forschungsprojekts "Nachhaltige städtische Entwicklung in der Europäischen Arktis (SUDEA): Verbesserung von transnationaler Kooperation in abgeschiedenen Regionen" am German Institute of Development and Sustainability (IDOS)

Über die IDOS-Autorin

Weitere IDOS-Expert*innen zu diesem Thema

Baumann, Max-Otto

Politikwissenschaft 

Berger, Axel

Politikwissenschaft 

Gitt, Florian

Ökonomie 

Goedeking, Nicholas

Vergleichende politische Ökonomie 

Haug, Sebastian

Politikwissenschaft 

Hilbrich, Sören

Ökonomie 

Inacio da Cunha, Marcelo

Wirtschaftswissenschaften, Geographie 

Kachelmann, Matthias

Politikwissenschaft 

Li, Hangwei

Politikwissenschaft 

Morare, Ditebogo Modiegi

Politikwissenschaften 

Novoselova, Anna

Politikwissenschaften 

Wingens, Christopher

Politikwissenschaftler