Die aktuelle Kolumne

Arabischer Frühling, aber schlechte Ernten: Warum das ländliche Tunesien für den Erfolg der Revolution wichtig ist

Houdret, Annabelle / Mohamed Elloumi
Die aktuelle Kolumne (2013)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 22.07.2013)

Bonn, Tunis, 22.07.2013. Wie der tunesische Agrarminister bekannt gab, fällt die Ernte in diesem Jahr um 30 % geringer aus als im Jahr zuvor, vor allem aufgrund fehlender Niederschläge. In einem Land, in dem die steigenden Lebenshaltungskosten die Revolution von 2011 mit ausgelöst haben, ist diese Nachricht besonders alarmierend – sowohl im Hinblick auf wirtschaftliche Auswirkungen als auch wegen möglicher sozio-politischer Folgen. Schon jetzt deckt das Land je nach Jahr 30 bis 50 % seines Getreidebedarfs durch Importe, die es von stark schwankenden Weltmärkten bezieht. Nun werden die Importkosten voraussichtlich ein weiteres Mal steigen, und das mitten in einer kontrovers geführten Debatte um wachsende Auslandsschulden. Wie andere arabische Staaten auch hat Tunesien seit den jüngsten politischen Unruhen in der Region die Subventionen für Getreide und andere Verbrauchsgüter deutlich erhöht. Gleichwohl bleibt die wirtschaftliche und politische Situation weiterhin instabil.

Das Leben in Sidi Bouzid, wo die Revolte begann, hat sich seit der verzweifelten Selbstverbrennung des inzwischen berühmten Gemüsehändlers Bouazizi auch mehr als zwei Jahre nach der Revolution nicht grundlegend verbessert. Von hier aus hatte sich die Revolte auf den landwirtschaftlich geprägten Westen Tunesiens ausgeweitet und die Forderungen nach „Arbeit und Würde“ weitergetragen, bevor die Unruhen auf städtische Gebiete und Küstenregionen übergriffen. Die Verarmung der Landbevölkerung und ihre wachsende Unzufriedenheit mit einem Regime, das ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen konnte, spielten bei den Aufständen eine Schlüsselrolle. Diese Faktoren sind daher auch für die Stabilisierung des Landes von elementarer Bedeutung.

Das Leben in Sidi Bouzid ist in vielerlei Hinsicht typisch für die Probleme des ländlichen Tunesiens. Der Kleinstadt fehlt es an grundlegender städtischer Infrastruktur, das Verkehrsnetz dient vor allem der Anbindung an die Hauptstadt und verbindet nur ungenügend mit dem Umland und seinen Märkten. Die Arbeitslosigkeit ist unvermindert hoch (2012 mehr als 29 % gegenüber landesweit 17,6 %), und mehr als ein Drittel der Menschen auf dem Land leben unterhalb der nationalen Armutsgrenze – mehr als doppelt so viele wie im landesweiten Durchschnitt. 40 % der Einwohner der Region sind in der Landwirtschaft tätig (landesweit knapp 20 %), doch die Löhne werden nur unregelmäßig gezahlt und reichen kaum aus, um die Existenz der Menschen zu sichern. Die Verknappung und Verschmutzung von Boden- und Wasserressourcen führt zu zunehmender Ausgrenzung von Kleinbauern, die zudem die Kosten der Agrarpolitik des Ben-Ali-Regimes zu tragen haben. Sein Hauptziel war es, den Bedarf der Verbraucher zu decken, nicht die Kapazitäten der Produzenten zu fördern – doch heute können diese nicht mit der wirtschaftlichen Liberalisierung des Sektors Schritt halten.

Angesichts der schweren Wirtschaftskrise Tunesiens seit der Revolution beschloss die Regierung des Landes kürzlich, neue Auslandsanleihen aufzunehmen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Ob dieses Geld der Entwicklung des Landes zugutekommt, indem die Wirtschaft gefördert und die Rahmenbedingungen für politische Freiheit und sozialen Zusammenhalt verbessert werden, oder ob es lediglich dem aktuellen Konsum dient, bleibt indes ungewiss.

Nach einem bereits umstrittenen Darlehensvertrag mit der Weltbank zur Finanzierung einer Reform der öffentlichen Verwaltung ist die im Juni 2013 beschlossene Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über einen Kredit in Höhe von 1,75 Mio. USD besonders problematisch. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die an das Abkommen geknüpften Bedingungen den Strukturanpassungsprogrammen der 1980er/1990er Jahre ähneln. Diese Konditionen können die Lebensbedingungen der Tunesier weiter verschlechtern und eben jene Probleme verstärken, die 2011 die Aufstände verursacht haben. Um die Auszahlung des Kredits sicherzustellen, erklärte sich Tunesien bereit, den Bankensektor umzustrukturieren, Subventionen zu kürzen und eine Reform und gegebenenfalls Privatisierung öffentlicher Dienstleistungsbetriebe durchzuführen, wie etwa des nationalen Wasserversorgers SONEDE und des staatlichen Gas- und Stromversorgers STEG. Zwar können diese Maßnahmen die Staatsausgaben reduzieren, doch sie werden sich auch auf die Binnenwirtschaft einschließlich des ohnehin geschwächten Agrarsektors auswirken. Noch werden hier die Bewässerung, Öl und Gas subventioniert und sind die Preise für Getreide und Milch staatlich fest- gelegt. Doch es ist nicht absehbar, wie sich die geplanten Reformen auf diese Subventionen auswirken werden. In der schon jetzt prekären Wirtschaftslage werden steigende Preise für Transport, Wasser, Gas und Strom (und damit auch für viele Verbrauchsgüter) zusammen mit der steigenden Inflationsrate stark negative Folgen für die Kaufkraft und die Lebensumstände des durchschnittlichen Tunesiers und erst recht der ärmeren Bevölkerungsgruppen haben.

Somit besteht die Gefahr, dass die Auswirkungen der Reformen gerade diejenigen Probleme verschlimmern, die dazu beitrugen, die Glaubwürdigkeit des früheren Regimes zu untergraben: regionale Disparitäten, hohe Arbeitslosigkeit und erhöhte Armutsraten insbesondere im ländlichen Raum, wachsende Ungleichheit und das allgemeine Gefühl, der Staat vernachlässige seine Pflichten gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern.

Noch ist unklar, ob und wie die geplanten Reformen durch Ausgleichsmaßnahmen flankiert werden und so mögliche negative sozioökonomische Auswirkungen abgefedert werden können. Besteht eine realistische Chance, dass die durch Kürzung von Subventionen freigewordenen Mittel zeitnah und wirksam in die Hände derer gelenkt werden, die sie benötigen? Angesichts der weiter bestehenden strukturellen Probleme in Tunesiens Wirtschaft und Politik, zu denen Korruption, Zentralisierung, eine unzureichende sektorübergreifende Kooperation und die fragwürdige Ausrichtung der Agrar- und Entwicklungspolitik zählen, wird das schwierig sein. Die Entscheidung, Subventionen zu kürzen, sollte von Entwicklungsmaßnahmen flankiert werden und insbesondere die Belange ausgegrenzter und benachteiligter Bevölkerungsgruppen berücksichtigen. Dazu gehört es, nicht nur die Zielgruppen und ihre Bedürfnisse eindeutig zu identifizieren, sondern auch Kompensationsmaßnahmen zeitnah umzusetzen. Um zu greifen, wenn die genannten Wirkungen eintreten, müssten solche Maßnahmen weit im Vorfeld der Programme zur Strukturanpassung umgesetzt werden. Zudem hängt die Wirksamkeit solcher Maßnahmen stark von den Akteuren und politischen Institutionen ab, die sie umsetzen. In der aktuellen Situation Tunesiens, die noch immer von Korruption, politischen Grabenkämpfen und hohen finanziellen und politischen Transaktionskosten von Politikmaßnahmen geprägt ist, scheint dies zumindest schwierig. Gerade deshalb sind die zeitliche Staffelung von Reformen und flankierenden Programmen sowie ein ausgeprägtes politisches Feingefühl unabdinglich, damit die tunesische Regierung und internationale Geber soziale Gleichheit fördern und die Grundlage für einen neuen Gesellschaftsvertrag legen können. Andernfalls drohen schlechte Ernten, hohe Preise und Strukturanpassungsprogramme die Proteste in Sidi Bouzid und im übrigen Tunesien erneut aufflammen zu lassen.

Dr. Annabelle Houdret, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Umweltpolitik und Ressourcenmanagement“, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE);
Mohamed Elloumi, Senior Researcher am Institut National de la Recherche Agronomique de Tunisie (INRAT), Tunis.

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