Die aktuelle Kolumne
Gleichberechtigte Partizipation?
Wie die Beteiligung von Geflüchteten Politik und Wissenschaft verbessern kann
Flaig, Merlin / Abis GetachewDie aktuelle Kolumne (2024)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 05.02.2024
Bonn, 5. Februar 2024 - Die weltweite Vertreibung nimmt aufgrund mehrerer Krisen zu. Dafür müssen Lösungen entwickelt werden. Politische Entscheidungsträger*innen und Wissenschaftler*innen müssen mehr tun, um Geflüchtete aktiv in Politik und Forschung einzubeziehen. Trotz zunehmender Anerkennung der zentralen Rolle von Geflüchteten, muss ihre Beteiligung weiter ausgebaut werden. Wenn die Stimmen und Perspektiven Geflüchteter nicht umfassender in die Entwicklung nachhaltiger Lösungen für Flucht einbezogen werden, bleiben die Legitimität der Maßnahmen und ihre erfolgreiche Umsetzung fraglich. Dies erfordert den politischen Willen der Entscheidungsträger*innen und sorgfältige ethische Überlegungen in der Forschung.
Die Forderungen von Geflüchteten nach Beteiligung an politischen Prozessen und Forschung steigen. In den letzten Jahren ist die Zahl der Refugee-led organisations (RLOs) weltweit stark gewachsen, wobei das Global Refugee-led Networkund Refugees Seeking Equal Access at the Table prominente internationale Beispiele sind. In der Fluchtforschung haben die wissenschaftliche Aufmerksamkeit und gleichberechtigte Beteiligung von Geflüchteten zu einer wachsenden Zahl kritischer Analysen und Publikationen geführt. Viele Wissenschaftler*innen und Geflüchtete fordern mehr partizipative Ansätze und eine aktive Rolle für Geflüchtete in Politik und Forschung.
Geflüchtete in globalen Entscheidungsgremien
Beim zweiten Globalen Flüchtlingsforum (GRF) in Genf/Schweiz im Dezember 2023 waren mehr als 300 der über 4.200 Teilnehmenden Geflüchtetendelegierte. Dies ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum GRF 2019, an dem nur rund 70 Geflüchtete teilnahmen. Sprecher*innen der Konferenz kritisierten jedoch zu Recht, dass 23 von 25 eingeladenen Geflüchtetendelegierten des Africa Refugee-led Network die Visa verweigert wurden. Gemessen an der Gesamtzahl der Teilnehmenden blieb 2023 die Repräsentanz von Geflüchteten mit nur 7% gering. Das ist vor allem auf die rechtlichen Rahmenbedingungen zurückzuführen, die eine stärkere Beteiligung von Geflüchteten an politischen Entscheidungsprozessen behindern.
Daher organisierten RLOs und Geflüchtete zeitgleich mit dem Forum den Refugee Leadership Multipurpose Space, in dem sie über 40 öffentliche Veranstaltungen zu Fragen von Partizipation und Repräsentation durchführten. Hier stellte Reem Alabali-Radovan, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Kava Spartak als Delegationsmitglied vor. Mit ihm war erstmals ein Geflüchteter offizieller Teil einer deutschen Delegation.
Da RLOs oft die ersten Ansprechpartner*innen bei Krisen in ihren Gemeinden sind, wie z.B. während COVID-19, ist ihre Expertise essenziell für eine gute Politik und muss deshalb systematischer einbezogen werden. Ein Schritt in diese Richtung ist die Einrichtung eines Refugee Advisory Boards in Deutschland. Damit folgt Deutschland Australien, Kanada, Neuseeland und den Vereinigten Staaten, die bereits über solche Gremien verfügen- ein positiver Beitrag um den moralischen, politischen und rechtlichen Auftrag zur Beteiligung von Geflüchteten in der Politikgestaltung zu fördern.
Geflüchtete in der Forschung
Der aktivere Einbezug von Geflüchteten in der Forschung ist von entscheidender Bedeutung, insbesondere wenn es um ihre Erfahrungen geht. Dies fördert nicht nur einen inklusiveren und ethischeren Ansatz in der Forschung selbst, sondern stellt auch sicher, dass die Erfahrungen und Perspektiven der direkt Betroffenen besser dargestellt werden. Geflüchtete verfügen zweifellos über das beste Wissen über ihre Herausforderungen, Bewältigungsmechanismen und Hoffnungen für die Zukunft. Durch ihren aktiven Einbezug in die Forschung tragen sie zur Wissensgenerierung bei und fördern so ein authentischeres und umfassenderes Verständnis der komplexen Herausforderungen und Chancen, mit denen sie konfrontiert sind.
Partizipative Ansätze erhöhen nicht nur die Glaubwürdigkeit und Relevanz der Forschung, sondern stärken auch das Gefühl der Handlungsfähigkeit und Würde von Geflüchteten, indem sie als aktive Akteur*innen bei der Gestaltung von Politiken und Maßnahmen, die ihr Leben direkt betreffen, anerkannt werden. Wissenschaftler*innen müssen aber sicherstellen, dass Machtungleichgewichte angemessen berücksichtigt und Geflüchtete nicht gefährdet werden. Dies ist besonders wichtig in einem zunehmend politisierten, komplexen und unsicheren Umfeld weltweit, in dem öffentliche Räume für die Beteiligung von Geflüchteten und Forschung schrumpfen.
Ein IDOS-Forschungsprojekt, das u.a. von den Autoren dieser Kolumne durchgeführt wurde, ist ein gutes Beispiel: Dank einer vertrauensvollen Partnerschaft konnte die Forschung während der COVID-19-Pandemie in Zusammenarbeit mit Geflüchteten fortgesetzt werden, was den entscheidenden Wert ihrer Insiderperspektive und einer partnerschaftlichen Forschung unterstreicht, aber auch zum Nachdenken darüber anregt, wie Forschung stärker lokalisiert werden kann.
Lokal verankerte und partizipativ durchgeführte Forschung ist für humanitäre und entwicklungspolitische Vorhaben von entscheidender Bedeutung. Sie stärkt lokale Forschungskapazitäten und generiert durch lokale Beteiligung während des gesamten Forschungsprozesses kontextspezifische Lösungen, die eine passgenauere Politikberatung ermöglichen. Eine stärkere Beteiligung von Geflüchteten sowohl in der Politik als auch in der Forschung ist unerlässlich, um die Herausforderungen von Fluchtsituationen weltweit zu bewältigen.
Merlin Flaig ist Sozialwissenschaftler und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprogramm „Transformation politischer (Un-)Ordnung“.
Abis Getachew ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Esurv Consults in Äthiopien.