Die aktuelle Kolumne
Hohe Ansprüche treffen auf Geopolitik
Führen globaler Süden und die SDGs Indiens G20-Präsidentschaft zum Erfolg?
Dang, Vy / Eva Lynders / Wulf ReinersDie aktuelle Kolumne (2023)
Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 21.08.2023
Bonn, 21. August 2023. „Eine Erde – eine Familie – eine Zukunft“ ist das Motto der indischen G20-Präsidentschaft 2023. Es betont das Verständnis, dass sich die Herausforderungen der „globalen Polykrise“ nur mit kooperativen Ansätzen bewältigen lassen. Im Rahmen der Präsidentschaft will Indien in der heterogenen Gruppe der G20 Handlungsfähigkeit in einem weiten Themenspektrum herstellen. Dazu gehören Klimafinanzierung, von Frauen geleitete Entwicklung, umweltverträgliche Lebensstile (LiFE), digitale Transformation und die Reform multilateraler Institutionen. Die Agenda wird überschattet von Spannungen, die sich aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den schwierigen Beziehungen zwischen China und den USA sowie der Mitgliedschaft dieser geopolitischen Wettbewerber in der G20 ergeben.
Im Versuch diese Konfliktlinien zu umgehen, die sich auch in der Abgrenzung zwischen BRICS-Staaten und G7 ausdrücken, konzentriert sich der G20-Vorsitz auf die Beziehungen zwischen globalem „Norden“ und „Süden“. Indien setzt sich für eine Reform des internationalen Systems zugunsten einer besseren Vertretung des globalen Südens ein. Über Beteiligungsrechte hinaus wird tatsächliche Entscheidungsgewalt in internationalen Organisationen gefordert. Damit verbunden setzt sich Indien für die dauerhafte Aufnahme der Afrikanischen Union (AU) in die G20 ein.
Die „IIBSA“-Reihenfolge der G20-Präsidentschaften – Indonesien (2022), Indien (2023), Brasilien (2024) und Südafrika (2025) – ist eine Gelegenheit, die Perspektiven des Südens und seine Entwicklungsbelange in vier aufeinanderfolgenden Jahren zu priorisieren. Die Staaten bilden keinen festen Block, sie einen jedoch Entwicklungsherausforderungen sowie wirtschaftliche und politische Rollen in ihren jeweiligen Weltregionen. Unterstützt durch das Troika-Modell, das die aktuelle mit der vorherigen und der folgenden Präsidentschaft verbindet, hat Indien Vertreter*innen dieser Gruppe in die Prozesse seines Vorsitzes einbezogen. Zudem wurden mit dem „Voice of the Global South Summit“ 125 Länder zu ihren Erwartungen an die G20 befragt.
Aufbauend auf diesem Verständnis von Interessen und Spannungen versucht Indien die G20 als Institution zu definieren, die für Entwicklung und Wachstum verantwortlich zeichnet, nicht jedoch für Frieden und Sicherheit. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Versuch, den „geopolitischen Elefanten“ aus dem Raum zu manövrieren, zum Erfolg führt. Die Präsidentschaft wird sich an inhaltlichen Fortschritten und einem gemeinsam verabschiedeten Communiqué auf dem G20-Gipfel Anfang September messen lassen müssen. Dabei ist es Teil der indischen Strategie, die Themen der G20 an die Agenda 2030 als gemeinsamen Bezugspunkt anzulehnen. Dies zeigt sich an Sprachregelungen und Prioritäten, zum Beispiel an der „von Frauen geleiteten Entwicklung“ oder im Bereich Energiewende.
Neben der Orientierung an den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) versucht die Präsidentschaft durch die Betonung indischer Konzepte wie „LiFE“ oder digitale öffentliche Infrastruktur „die Geschichte Indiens zu erzählen“. Dazu trägt bei, dass die G20-Aktivitäten im ganzen Land verteilt umgesetzt werden. Die Idee, „Indien für die Welt und die Welt für Indien bereit zu machen“, ist verbunden mit der Hoffnung auf eine umfassendere Rolle der G20 im Weltgeschehen und dem Ziel, eine internationale Führungsrolle Indiens im In- und Ausland zur Geltung zu bringen. Mit Blick auf das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschef*innen und das Ende der rotierenden Präsidentschaft wächst allerdings der Druck, dem Scheinwerferlicht der Präsidentschaft und den hohen selbstgesteckten Ansprüchen als globaler Akteur gerecht zu werden.
Aus dieser Gemengelage ergibt sich eine Chance für die Agenda 2030 und mehr Einigkeit in der internationalen Gemeinschaft. Während die IIBSA-Vorsitze zu einer Verschiebung der Prioritäten zugunsten der Herausforderungen des globalen Südens führen, fördert Indien im Versuch der Umgehung geopolitischer Spannungen eine Rückbesinnung auf die Agenda 2030 als „kleinstem gemeinsamen Nenner“. Es wird kaum gelingen, bei allen SDGs substanzielle Fortschritte zu erzielen. Das wäre für jede andere Präsidentschaft ebenso schwierig. Der Ansatz, die Präsidentschaft an den SDGs auszurichten, bietet jedoch eine Möglichkeit, die gemeinsame normative Orientierung zu stärken; gerade in Zeiten, in denen Rückschritte in globalen Zielsetzungen befürchtet und die Entwicklung einer post-2030 Agenda drängender wird. Durch den Erhalt der G20 als gemeinsame Plattform kann Indien auch dazu beitragen, einer gefährlichen Fragmentierung im internationalen System entgegenzuwirken. Letztere könnte sich durch eine schärfere Gegenüberstellung von G7 und einer möglicherweise erweiterten Gruppe der BRICS-Staaten unter chinesischer Führung entwickeln. Gelingt es der G20 zudem, durch die Einbeziehung der AU eine Reform einzuleiten, könnte dies Hoffnungen nähren, dass die mangelnde Vertretung des globalen Südens – eine Ursache für die gegenwärtige Dysfunktionalität des Systems – auch in anderen Institutionen adressiert werden kann.
Dieses Projekt wurde aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Zuschussvereinbarung Nr. 873119 gefördert.